Hier folgt bald eine
L E S E P R O B E
Hier folgt bald eine
L E S E P R O B E
Für meine beiden Lieben
„Kinder sind Inspiration“
Ich danke meinen beiden Töchtern für Ihre Unterstützung als wissbegierige Leserinnen. Sie haben mich immer wieder inspiriert, an diesen Roman weiter zu schreiben und haben an mich geglaubt. Meine Große, die selbst eine Leseratte ist, gab mir immer wieder wertvolle Tipps. Ohne meine jüngere Tochter, wäre dieser Roman niemals entstanden. Sie bat mich damals als siebenjährige, die Geschichten vom kleinen Vampir aufzuschreiben, die ich ihr immer erzählen musste. Aus diesen Kurzgeschichten entstand dann der Beginn eines Romans und ich tauchte ein in die wunderbare Welt der Fantasie und des Schreibens. In meiner Fantasie war alles real und lief wie ein Film vor mir ab. Es war eine wertvolle Erfahrung, die mein Leben bereichert hat.
Renate Roy lebt seit ihrer Geburt in München. Sie hat zwei lese begeisterte Töchter, die sie immer wieder inspirieren und sie zum Schreiben ermutigen. Sie selbst ist eine vielseitig interessierte, sportliche Leseratte, die es liebt, in guten Büchern zu schmökern und selbst Geschichten zu erfinden umso ihre ganz eigenen Welten zu kreieren. Die Maximus-Bücher waren dabei ihre ersten Geschichten, die das Licht der Öffentlichkeit erblicken dürften.
‚Verdammt ist das kalt hier', waren meine ersten Gedanken, als ich, auf dem Bauch liegend, erwachte. Meine Lippen fühlten sich klebrig an und ich schmeckte die feuchte Erde. Lag ich hier schon länger? Es schien, als ob sich die Kälte und die Feuchtigkeit, bereits einen Weg durch meine Klamotten gebahnt hätten. Wie war ich hierhergekommen? Es schien alles so unwirklich.
‚Das Vamuraibuch! Das blaue Licht!‘, schoss es mir siedend heiß durch den Kopf. ‚Diese Schwerelosigkeit – ich war eins geworden mit dem blauen Licht.‘
Ich wollte mich umdrehen, doch in meinem Kopf wirbelte es durcheinander, als wäre ich immer noch im blauen Tunnel gefangen. Nur mit dem Unterschied, dass mein Schädel jetzt auch noch brummte und schmerzte. Eine leichte Übelkeit, hervorgerufen durch den sandigen, leicht metallischen Geschmack des Bodens, gesellte sich dazu. Ich spürte mein eigenes Gewicht auf meinen Brustkorb, der sich angespannt mit jedem Atemzug hob. Das Atmen fiel mir immer schwerer und ich sog mühsam die modrige Luft ein. Ein mir unbekanntes Panikgefühl machte sich in mir breit, trotzdem wagte ich nicht, mich umzudrehen. Es war alles so unwirklich. Hätte ich nur das Kaminzimmer mit dem Vamuraibuch gemieden. Warum war ich nur immer so neugierig? Mein Vater hatte mich noch vor dem Buch gewarnt. Mein Leben war eigentlich perfekt gewesen. Papa hatte in meiner Lehrerin eine neue Frau gefunden und ich würde bald ein Geschwisterchen bekommen. Dank meiner entwickelten Spezialcreme, die uns damals schon vor den Vampirjägern gerettet hatte, führten wir ein fast normales Leben, das sich kaum von dem anderer unterschied. Na ja, außer dass wir in einem großen Schloss wohnten, gräflichem Ursprung waren und übermenschliche Kräfte hatten. Und dass sich mein Vater, der Graf Vamus, immer noch gerne in seine Gruft zurückzog.
Bei diesem Gedanken musste ich schmunzeln und konnte mir selbst in dieser Situation das Grinsen nicht verkneifen. Frau Mairose hatte zwar einiges in unserem Leben verändert, aber alle Marotten meines Vaters konnte auch sie nicht verändern. Ich selber hatte in letzter Zeit viele neue Freunde gewonnen und war eigentlich ein glücklicher Teenager. Was war nur in mich gefahren, die Worte meines Vaters zu ignorieren?
Er hatte mich eindringlich gewarnt: »Was für die Hexen das Hexenbuch ist, ist für die Vampire das Vamuraibuch. In diesem Buch sind all die Antworten enthalten, die für Vampire wichtig sind. Doch es ist sehr gefährlich und man muss ganz vorsichtig damit umgehen, weil es lebt und unheimliche Kräfte besitzt.«
Ich fand das alles damals ziemlich spannend. Das Vamuraibuch hatte mich von Anfang an in den Bann gezogen. Selbst als es mein Vater geöffnet hatte und ich anfangs etwas enttäuscht war, weil es nur aus leeren Seiten bestand. Mein Vater hatte mir aber erklärt, dass das Buch erst Sätze schreibt und zu einem spricht, wenn man ihm eine Frage stellt. Er hatte mich gleichzeitig vor den Gefahren des Buches gewarnt und dass man es nur im Notfall verwenden dürfe. Es könne einem auch Schaden zufügen und dazu bringen, in seine Seiten einzutauchen. Dann würde man in einer Zwischenwelt mit gefährlichen Wesen landen. Er erzählte mir außerdem, dass ein Vampir in dieser Zwischenwelt über keine außergewöhnlichen Kräfte verfügen würde. Tja und das schien jetzt der Fall zu sein. Ich fror fürchterlich und hatte Angst.
Meine Gedanken schwelgten weiter. Das erste Erlebnis mit dem Vamuraibuch war schon einige Zeit her gewesen, aber es war mir nicht mehr aus dem Sinn gegangen. Immer wieder zog es mich magisch ins Kaminzimmer, doch normalerweise betrachtete ich es immer aus sicherer Entfernung. Bis ich eines Tages die Grenze überschritt.
Meine Eltern waren nicht zu Hause und wie von unsichtbarer Hand geführt, ging ich ins Kaminzimmer und stand plötzlich ganz nahe neben dem Vamuraibuch. Ich konnte mich der Magie des Buches nicht mehr entziehen. Wie von selbst griff meine Hand in das Regal, wo das Buch lag. Es war so schwer, dass ich es kaum anheben konnte. Ich nahm es, legte es vor den Kamin auf den Boden und betrachtete es zum ersten Mal näher. Seltsame Ornamente zierten den ledernen Einband und die Blätter waren außen rot gefärbt. Es sah ganz anders aus, als alle Bücher, die ich bisher gesehen hatte. Als es so vor mir lag, konnte ich einfach nicht widerstehen, ich musste es einfach berühren. Meine Hand strich vorsichtig über den dicken Einband. Meine Hand befühlte die geprägten Buchstaben: VAMURAIBUCH.
Was für ein merkwürdiger Name.
Ich spürte eine Mischung aus Freude und Leid, Gut und Böse. Es roch alt und modrig und ich sog gierig an diesem Duft, wie ein Verdurstender an einem Strohhalm. Es machte mich ganz benommen und meine Hand begann leicht zu vibrieren. Doch irgendetwas hielt mich zurück, das Buch zu öffnen. Die Warnungen meines Vaters waren tief und fest in meinem Gehirn verankert. Ich wollte schon wieder das Kaminzimmer verlassen, als aus der Seite des Buches ein Hauch blauen Rauches entwich. Es war, als wollte das Buch mit mir Kontakt aufnehmen. Gebannt starrte ich den Rauch an, der sich sogleich wieder verzogen hatte. Zurück blieb ein süßlicher, unwiderstehlicher Geruch, der mich an frisches Blut erinnerte. Genüsslich strich meine Zunge über meine Lippen und meine Vampirzähne fingen leicht an zu vibrieren.
Aber nicht, dass ihr jetzt denkt, ich wäre ein blutrünstiger Vampir. Ganz im Gegenteil. Ich hatte mich bisher nur von Tier Blut und Beuteln aus der Blutbank ernährt. Seit ich mit der Spezialcreme eins geworden war, schmeckte mir auch normales Essen. Diese Creme hatte nicht nur unser Leben verändert, sondern uns zu Halbmenschen gemacht, weil wir jetzt tagsüber existieren konnten. Meine Gedanken wanderten zurück zum Vamuraibuch. Nachdenklich starrte ich es an und berührte es erneut. Doch etwas hielt mich immer noch davon ab, das Buch zu öffnen. Ich wollte meine Hand schon zurückziehen, doch sie klebte am Einband fest. Es fühlte sich an, als ob ein Magnet sie festhalten würde, als ob sich das Buch weigern würde, mich wieder gehen zu lassen. Ich dachte, ich träume und schüttelte ungläubig den Kopf.
»Was willst du von mir? Lass mich gehen! «
Dabei versuchte ich mit der anderen Hand die klebende Hand wegzuziehen. Doch es half nichts, das alte Vamuraibuch blieb stur und ließ es nicht zu. Ich fasste neuen Mut und nahm die andere Hand, um das Buch zu öffnen. Das hätte ich wohl besser lassen sollen, denn ich spürte so etwas wie einen Stromschlag durch meinen Arm und dieser wurde plötzlich ganz schwer und heiß. Anschließend durchfloss mich ein angenehmer Schauer, der sich sogleich in meinen ganzen Körper verteilte. Ein letzter Versuch den Arm zurückziehen scheiterte. Wie von einer unsichtbaren Kraft geleitet, schlug der Deckel des Vamuraibuches plötzlich von alleine auf und das Buch lag geöffnet vor mir. Sanfter blauer Rauch stieg langsam aus dem Buch empor und weil ich den Kopf nach unten gebeugt hatte, stieg mir der süßliche blaue Rauch erneut direkt in die Nase hinein. Hastig und gierig sog ich daran. Ich konnte nicht genug davon bekommen und es machte mich ganz benommen. Noch bevor ich mir über dieses blaue Licht und den Geruch Gedanken machen konnte, begann das Buch plötzlich mit mir zu sprechen.
»Ich habe dich erwartet Maximus! Ich warte seit dem Tag, an dem du mich zum ersten Mal gesehen hast, darauf, dass du mich öffnest! Was willst du wissen?«
Vor Schreck ließ ich den Deckel los, machte einen Satz zurück und verlor mein Gleichgewicht. Ich fiel rücklings um und knallte mit dem Kopf gegen die Couch. Es gab einen dumpfen Schlag und ich hielt mir schmerzerfüllt den Kopf.
»Das gibt es doch gar nicht«, murmelte ich mehr zu mir selbst, »wie kann ein Buch zu mir sprechen?«
Wieder schüttelte ich ungläubig meinen Kopf und starrte erneut das Buch an. Was hatte mir mein Vater letztes Mal gesagt? »Das Buch lebt!«
Aber dass es auch noch mit mir sprechen würde, darauf war ich einfach nicht vorbereitet gewesen. Ich krabbelte vorsichtig auf allen Vieren zurück zum Buch und sog erneut den süßlichen Duft des blauen Rauches ein. Ich konnte einfach nicht genug davon bekommen und wurde ganz benommen davon. Wie in Trance begann ich schließlich mit dem Buch zu sprechen.
»Ich, ich möchte gern«, stammelte ich noch etwas unbeholfen, fasste dann aber meinen ganzen Mut zusammen. »Die Zwischenwelt, was ist das denn genau? Kannst du sie mir bitte zeigen?«
Der blaue Rauch reagierte bei dem Wort Zwischenwelt, als hätte er auf diese Frage gewartet und wurde immer heftiger. Ein kalter Schauer durchzog meinen Körper, es fühlte sich an, als würde er von kleinen Eiskristallen überzogen werden. Erneut hatte ich das Gefühl fliehen zu müssen. Doch als ich aufspringen und flüchten wollte, bemerkte ich, wie gelähmt ich war. Ich konnte mich nicht mehr von der Stelle bewegen. Gebannt starrte ich auf den blauen Rauch und musste tatenlos zusehen, wie dieser immer näher auf mich zukam und heftiger wurde. Als wäre das noch nicht genug, entwickelte sich jetzt aus dem blauen Rauch ein sich immer schneller drehendes und immer größer werdendes blaues Loch, das an meinen Eingeweiden zog und versuchte mich hineinzuziehen. Kraftvoll stemmte ich mich dagegen.
»Nein«, versuchte ich es noch einmal mit letzter Kraft und hielt mich verkrampft mit der einen Hand am Boden fest. Mit der anderen ergriff ich panisch ein Stuhlbein. Doch diese unheimliche Kraft zog unaufhaltsam an mir. Ein letzter Versuch. »Ich möchte nicht in diese Zwischenwelt! Ich wollte nur wissen, was sie ist«, probierte ich, um das Vamuraibuch zu beschwören und zu besänftigen.
Einen Augenblick schien es, als ob der blaue Rauch zögern und sich anders besinnen würde. Doch dann umhüllte er mich wie ein Kokon aus Watte und eine angenehme Wärme durchrieselte meinen Körper. Der süßliche Duft betörte mich und machte mich willenlos. Meine verkrampften Hände gaben nach und ich ließ los. All mein Widerstand war verflogen und ich fühlte mich leicht wie eine schwebende Feder. Ich bemerkte erst nicht, dass das Buch begann mich aufzusaugen. Der Sog wurde immer heftiger und mein mittlerweile willenloser gebeutelter Körper wurde wie von einem Staubsauger aufgesogen. Alles drehte sich in meinem Kopf, als wäre ich in einer Zentrifuge gefangen, die sich immer schneller drehte. Ich spürte, wie mir mein Geist entglitt und mich in diesem tiefen Blau Schwindel erfasste. Bis ich mich versah, verlor ich das Bewusstsein. Im Unterbewusstsein spürte ich, wie der Tunnel meinen Körper schwerelos in diesem blauen Licht transportierte. Weit weg in eine andere Welt, bis ich schließlich in diesem düsteren, unheimlichen und kalten Wald wieder erwachte.
Mittlerweile hatte ich mich umgedreht, lag auf dem Rücken und starrte auf die düsteren Bäume über mir. Sie bewegten ihre Äste im Wind, als würden sie nach mir greifen wollen und ächzten, als würden sie mich auslachen. Ich bereute, dass ich die Warnungen meines Vaters vor Neugier ignoriert hatte und das hatte ich jetzt davon. Mutterseelen allein in dieser düsteren Zwischenwelt fror ich zum ersten Mal in meinem Leben und machte mir vor lauter Angst fast in die Hose. Schützend umklammerte ich mit den Armen meinen kalten Körper und dachte über mein Leben nach. Was würde mich hier erwarten? Konnte ich irgendwann wieder heim zu meiner Familie? Würde ich jetzt überhaupt noch mein Geschwisterchen kennenlernen, das bald geboren wird? Verzweifelt blickte ich mich um. Nichts als diese grässlichen Bäume. Ich fühlte mich hilflos und kraftlos und meine Augen blickten müde und angsterfüllt umher. Normalerweise konnte ich mit diesen Augen sehr weit sehen, doch hier in dieser Zwischenwelt nur ein paar Meter. Meine Ohren lauschten den Geräuschen im Wald, doch außer dem Ächzen der Bäume, war es still. Keine Tiergeräusche – gar nichts.
Ich hörte mein Vampirherz bis zum Hals schlagen und war überwältigt von meinen eigenen Gefühlsausbrüchen, dass mir die Tränen in die Augen stiegen. So etwas kannte ich nicht. Es musste an dieser Zwischenwelt liegen.
Bin ich hier ein normaler Mensch? Fühlen richtige Menschen immer so?
Ich war verwirrt, hilflos und kraftlos. Ich war zum ersten Mal in meinem Leben einsam und verlassen. Die Angst schnürte mir den Hals zu. Panisch rang ich nach Luft und sog die modrige und feuchte Luft des Waldes ein. Plötzlich zuckte mein ganzer Körper zusammen.
War da nicht doch ein Geräusch?
Ein Hitzewall traf meinen Körper unverhofft, das Blut kochte unter dem Adrenalinstoß der Angst und erste Schweißperlen bildeten sich auf meiner Stirn. Panisch blickten meine Augen umher, doch niemand war zu sehen.
»Ich muss hier raus, warum hilft mir denn keiner? Papa, wo bist du?«, wimmerte ich hilflos vor mich hin. Und zu mir selbst: 'Reiß dich zusammen du Jammerlappen!'
Angst vor der Ungewissheit machte sich erneut in mir breit. Und nichts als diese grässlichen Bäume um mich herum. Ich überlegte noch kurz, ob ich die Nacht hier verbringen und erst bei Tageslicht weiterziehen sollte. Doch angesichts des unheimlichen Ortes verwarf ich den Gedanken sofort wieder.
'Nun mach schon!', schellte ich mich selber, 'ich bin doch schließlich ein Vampir. Vor was soll ein Vampir denn Angst haben?'
Das stärkte mein Selbstvertrauen – schließlich war ich immer noch ein Wesen der Nacht. Warum also sollte ich in der Nacht in einem Wald Angst haben. Doch irgendetwas stimmte hier nicht. Mein Blick – er war wirklich nicht normal hier. Es graute mir vor dieser Welt, ich konnte kaum etwas in der Dunkelheit sehen, so hilflos hatte ich mich noch nie gefühlt. Das kann nicht sein, ich bilde mir das nur ein.
Ich schloss die Augen und versuchte, alles um mich herum wegzuzaubern. Das war sicherlich nur ein Traum. So, das müsste genügen. Langsam öffnete ich ein Auge nach dem anderen, doch nichts hatte sich verändert, immer noch dieser düstere muffelige Wald. Resignation machte sich in mir breit. In welche Richtung soll ich jetzt gehen?
Ich blickte mich hastig um. Ich wünschte mich zurück in das Kaminzimmer, zurück zu meinen Eltern, die ich bereits jetzt vermisste.
Was habe ich nur getan? Sie machen sich bestimmt Sorgen. Warum habe ich nur nicht auf Papa gehört?
All mein innerliches Jammern half nichts, ich musste irgendwie alleine aus diesem Wald rauskommen. Vielleicht sollte ich mich in eine Fledermaus verwandeln. Ich breitete meine Arme aus und versuchte die innere Ruhe, die mich immer beflügelte, wenn ich mich verwandelte, zu spüren. Doch nichts geschah.
»So ein Mist«, grummelte ich missmutig. Ich würde also als normal sehender Mensch diese Welt erkunden müssen und fühlte mich plötzlich verletzlich. Mit hängenden Gliedern machte ich mich auf den Weg. Nach einiger Zeit wurde der Wald lichter und die Sterne spendeten mehr Licht. Am Ende des Waldes kam ich an das eigenartigste Feld, dass mir je begegnet ist. Mir fielen beinahe die Augen aus ihren Höhlen, als ich die Köpfe, die wie Pflanzen aus der Erde ragten, erblickte und sie mich:. »Rette uns! Rette uns!«
Mein ganzer Körper zuckte zusammen. Wie können Köpfe ohne Körper reden?
»Redet mit mir? Was wollt ihr? Das kann nicht sein!«
Ich stöhnte laut auf und stolperte vor Angst und Erregung über eine Wurzel, die auf dem Weg lag. Mit einem Satz landete ich auf dem Bauch und wagte zuerst nicht, aufzublicken. Ein eiskalter Schauer lief mir über den Rücken und es fühlte sich an, als ob mir das Blut in den Adern gefrieren würde. Was passiert hier mit mir?
Ganz langsam hob ich den Kopf und rappelte mich auf. Mein Blick fiel erneut auf die Köpfe, die auf dem Feld lagen. Es waren hunderte – nein tausende. Soweit das Auge reichte. Es war unglaublich. Die Köpfe sahen fürchterlich zerzaust aus, waren aber putzmunter. Trotzdem vernahm ich einen Geruch von faulem Fleisch in meiner Nase. Ich rümpfte sie angewidert, als die Köpfe erneut riefen: »Rette uns! Rette uns!«
Ich blickte mich um und suchte nach etwas, wovor ich die Köpfe retten sollte, doch ich sah nichts anderes als diese schrecklichen Felder. Ich riss mich zusammen und ging auf eine Gruppe Köpfe zu.
»Sagt mal, vor wem oder was soll ich euch denn retten? Es ist doch niemand anderes da. Und überhaupt, ihr seid doch schon alle tot, ihr habt doch keine Körper mehr und kein Herz!« Ich schüttelte angewidert meinen Kopf.
Wer macht denn so etwas Schreckliches, Köpfe abzutrennen, um sie dann wie reife Kürbisse auf ein Feld zu legen?
Ich war mir nicht sicher, ob die Köpfe wirklich mit mir redeten, oder ob ich mir das nur einbildete. Das war doch alles unmöglich.
Erneut schüttelte ich meinen Kopf, als wollte ich meine Gedanken ordnen. Die Köpfe schienen meinen Zweifel zu bemerken und redeten wirr durcheinander. »Wir sind nicht tot - der Herrscher war es«, »Ein schlimmer Fluch«, »Böse Gräueltaten«, »Die Welt wird vernichtet.«
Das war zu viel. Ich hielt mir die Ohren zu. Darauf war ich nicht vorbereitet gewesen. Ohne mich nochmals umzublicken, rannte ich entsetzt an ihnen vorbei. Ich lief und lief, vorbei an vielen Feldern, die ich einfach ignorierte. Ich wollte nur noch weg von diesem grauenhaften Ort, raus aus der Zwischenwelt.
»Warum hilft mir keiner?«, wimmerte ich verzweifelt. Plötzlich waren die Stimmen der Felder verschwunden.
»Wo kann er denn nur sein? Er muss doch hier sein!« Die Gräfin blickte besorgt in die unergründlichen Augen ihres Mannes.
Sie rieb sich nervös die Hände, es war Essenszeit und das ließ Maximus eigentlich nie aus. Er musste doch irgendwo hier stecken.
»Es wird ihm schon nichts passiert sein«, versuchte Graf Vamus die Gräfin zu beruhigen, »er ist alt genug, um auf sich selber aufzupassen.«
Im Kaminzimmer angekommen, stockte selbst ihm der Atem, als er das Vamuraibuch auf dem Boden entdeckte. Es war geöffnet und ein Strahl sanften, blauen Rauches strömte heraus. ‚Hat Maximus etwa das Buch benutzt?‘ Still und nachdenklich betrachtete er es und schüttelte den Kopf.
»Maximus, wo bist du?«, brüllte Graf Vamus durch das Schloss.
Keine Antwort, es blieb still. Der Graf schnaubte frustriert, lief los und durchsuchte das ganze Schloss nach Maximus. Wieder im Kaminzimmer angekommen, dämmerte es ihm plötzlich.
»Er wird doch nicht!«, murmelte er und betrachtete das Vamuraibuch. Es fiel ihm wie Schuppen von den Augen. Maximus muss mithilfe des Vamuraibuches in die Zwischenwelt gelangt sein. Jetzt musste er besonders besonnen handeln, denn sein Sohn war in großer Gefahr. Er durfte das Buch auf keinen Fall zuschlagen. Maximus wäre sonst für immer und ewig in der Zwischenwelt gefangen. Und was das bedeuten würde, war Graf Vamus klar. Er erinnerte sich an die Zeit, in der er hilflos dem Herrscher der Zwischenwelt ausgesetzt war. Er wusste, dass es dem jungen Vampir nicht alleine gelingen würde, den Klauen des Buches zu entkommen. Der Herrscher der Zwischenwelt würde sich des kleinen Vampirs bedienen und ihn für seine Machenschaften ausnutzen. Er wagte nicht, den Gedanken weiter zu spinnen und es sich näher auszumalen. Alleine die Bekanntschaft mit diesen bösen Wesen machen zu müssen, würde für seinen Sohn eine schlimme, grausame Erfahrung werden.
»Was soll ich denn nur tun?« rätselte Graf Vamus, »ich kann doch die Gräfin in diesem Zustand nicht alleine lassen und mich auf solch ein gefährliches Abenteuer einlassen. Maximus muss eine Weile in der Zwischenwelt alleine klarkommen. Ich kann ihm dieses Mal nicht sofort helfen.«
Er seufzte laut. In diesem Moment kam die Gräfin ins Kaminzimmer gelaufen und fand ihren Mann kauernd vor dem Vamuraibuch. Er wirkte völlig hilflos und verzweifelt. So hatte sie ihren Mann noch nie erlebt.
»Was ist denn los, was ist passiert?«, fragte sie ihn.
»Siehst du dieses offene Buch? Er zeigte auf das alte Buch mit den merkwürdigen Ornamenten, »das ist das Vamuraibuch und es ist der Schlüssel zu einer Zwischenwelt. Maximus befindet sich wahrscheinlich dort und muss mit den Kreaturen dieser Welt kämpfen. Wir Vampire sind zwar auch Wesen der Zwischenwelt, müssen aber nicht in ihr leben. In dieser Zwischenwelt leben alle, die aus der Welt verbannt wurden. Sie sind der Abschaum der Welt. Nicht einmal der Teufel will diese Kreaturen. Erst, wenn sich diese Wesen in der Zwischenwelt verdient gemacht haben, dürfen sie in die Hölle. Das Leben dort ist so grausam, das kannst du dir gar nicht vorstellen. Nur ein paar dieser Kreaturen auf der Erde und sie würden alle Menschen, die sich nicht wehren können und zu den Mitläufern gehören, in ihren Bann ziehen. Die Welt würde immer schlechter und grausamer werden.«
Seine Stimme wurde mit jedem Wort leiser. Der Graf erzählte seiner Frau von seinen eigenen Erfahrungen in der Zwischenwelt und wie ihn damals sein Vater gerade noch gerettet hatte.
»Damals war es für mich sehr knapp gewesen, aber meinen Vater hat der Herrscher getötet. Ich beschloss damals, ein guter Vampir zu werden und hatte mir geschworen, niemals wieder in diese Zwischenwelt zurückzukehren. Jetzt, wo Maximus dort ist, muss ich wohl doch noch einmal diese Welt betreten, um ihn zu retten. Maximus wird sonst für immer und ewig in dieser Welt gefangen sein. Doch das geht im Moment nicht, weil unser Baby unterwegs ist. Maximus muss eine Weile alleine klarkommen!«
Der Graf seufzte. »Das wird unseren Jungen ganz schön prägen und verändern.«
Gräfin Vamus war das plötzlich alles zu viel.
»Sag mal spinnst du, auf was wartest du? Du musst ihn sofort retten«, schrie sie auf einmal völlig hysterisch und rüttelte wie wild am Arm ihres Mannes, »ich komme schon alleine klar!«
»Das geht so nicht«, erwiderte Graf Vamus sanft, nahm ihre Hand in die seine und legte die andere auf ihr Bäuchlein. »Ich kann dich doch in diesem Zustand nicht alleine lassen. Wir müssen erst abwarten, bis das Baby da ist und es dir bessergeht. Es ist sehr riskant, in diese Welt einzutauchen. Ich kann dir nicht garantieren, dass ich wirklich mit Maximus zurückkommen werde. Ich kann nur hoffen, dass es mir gelingt.«
Die Verzweiflung war aus seinen Worten herauszuhören. Er ließ seine Frau los, nahm das Vamuraibuch vorsichtig in die Hände und legte es auf den Tisch.
»Sei mutig Maximus«, rief er in das Buch hinein, »ich werde bald kommen und dich retten!«
Papa? Wieso höre ich dich?
»Papa, hilf mir – ich habe fürchterliche Angst! Hörst du mich? Antworte mir – bitte!«.
Doch niemand reagierte. Ich konnte nicht ahnen, dass mein Vater gerade mit meiner Mutter aus dem Kaminzimmer gegangen war und mein Flehen nicht mehr gehört hatte. Obwohl er nicht antwortete, schöpfte ich trotzdem neue Hoffnung. Meine Familie konnte also tatsächlich durch das Vamuraibuch mit mir Kontakt aufnehmen. Sie wussten es nur noch nicht. Irgendwann würde ich wieder bei meiner Familie sein. Mein Vater würde mich bestimmt bald retten. Ich konnte in dieser Situation auch nicht verlangen, dass er mir jetzt half, denn Mutter war kurz vor der Niederkunft und brauchte ihn. Es war schon schlimm genug, dass ich ihnen vor lauter Neugier solche Probleme machte. Dann musste ich mich eben selber durch dieses Schlamassel kämpfen – ich würde das schaffen!
Die Kraft der Gedanken machte mich mutiger. Zumindest, bis ich eine riesige Staubwolke auf mich zukommen sah. Eine Art eisiger Wind schlug mir ins Gesicht. Ich begann innerlich zu frieren, machte vor lauter Schreck einen Satz zur Seite und erblickte einen Busch, der ein perfektes Versteck bot. Kauernd legte ich mich hinter diesen und machte die Augen zu. Ich hoffte einfach, wenn ich niemanden sehen würde, dann würde mich auch keiner sehen. Da kam wohl das Kind in mir durch.
So lag ich also ausgestreckt mit geschlossenen Augen am Boden und lauschte den herannahenden Geräuschen. Diese wurden immer lauter und unvermittelt hörte ich ein ohrenbetäubendes Trampeln und wirre Schreie in meinen Ohren. Mein Kopf begann zu vibrieren und ich presste mich noch stärker gegen den Boden und versuchte unsichtbar zu werden. Ich hoffte einfach, dass das Unheil dann an mir vorbeiziehen würde. Abrupt hörte das Trampeln neben meinem Busch auf. Tiere schnaubten laut und Gestalten redeten wild durcheinander. Ich hob vorsichtig meinen Kopf an, machte meine Augen einen kleinen Spalt auf und spähte blinzelnd durch den Busch. Meine Augen trafen auf ein anderes Augenpaar, das gerade den Busch auseinandergeschoben hatte und mich anstarrte. Ich wollte mich wieder ducken, doch es war schon zu spät. Sie hatten mich entdeckt.
»Da ist er ja!«, brüllte derjenige, der mich zuerst entdeckt hatte, »schnappt ihn euch!«
Unverhofft war ich von mehreren merkwürdigen Pferden mit seltsamen Köpfen umzingelt. Auf den Pferden, die selber eine panzerähnliche Außenhaut mit reptilienartiger Struktur hatten, saßen ganz eklige Kreaturen. Sie hatten eine Art Panzer um sich herum und stießen merkwürdige, unheimliche Geräusche aus. Noch bevor ich einen klaren Gedanken fassen konnte und etwas sagen konnte, fühlte ich auf einmal einen Schlag auf dem Kopf und war bewusstlos. Ich wachte erst wieder in einem dunklen, modrigen Verlies auf. Mein Kopf brummte und der merkwürdige Gestank um mich herum machte mich schläfrig. Irgendwie erinnerte mich dieser Geruch an den muffigen Keller im Vamuraischloss. Ich fühlte mich noch ganz benommen, als mich zwei der Kreaturen ruckartig packten und in einen großen Saal schleppten. Dadurch wurde ich hellwach und schimpfte sie.
»He ihr Rüpel. Lasst mich los. Was seid ihr nur für Grobiane? Und wie ihr eklig stinkt!«
Ich rümpfte dabei angewidert meine Nase und verzog das Gesicht zu einer Grimasse.
»Halts Maul«, meinte da der eine, ließ mich brutal auf den Boden fallen. Dann hob er mich wieder auf und packte mich fest am Arm.
»Kannst selber laufen du komischer Vogel«, meinte der andere und packte mich am anderen Arm.
Ich spürte die brutalen Griffe der beiden und blickte schmerzerfüllt um mich. Der große Saal sah fast so aus, wie der Palast eines Königs, doch nicht prachtvoll, sondern grau und düster. Überall roch es modrig, als ob etwas verwesen würde. Es war ein unheimlicher Ort. Am anderen Ende des Saals waren Thronstühle, die sich mächtig aus dem Boden erhoben. Vor dem größten blieben die zwei Kreaturen stehen und warfen mich zu Boden. Als ich mich aufrappelte, sah ich in ein Gesicht, das zwar menschenähnlich aussah, aber durch und durch voller Warzen und gelben Eiterherden bedeckt war. So ein ekliger Kerl. Das musste der Herrscher der Zwischenwelt sein. Ich rümpfte die Nase. So eklig hatte ich mir den Herrscher nicht vorgestellt. Auf dem anderen Thronstuhl saß eine Frau mit Hakennase, wirrem Haar und Warzen im Gesicht. Das musste die Frau des Herrschers sein, die wie eine Hexe aussah. Mein Blick wanderte zwischen die beiden. Ein kleiner zierlicher Stuhl, der irgendwie freundlicher und heller schien. Ich rieb mir die Augen, weil ich zuerst an eine Sinnestäuschung dachte. Doch dann sah ich in die wasserblauen sanften Augen eines wunderhübschen, blonden Mädchens. Sie sah aus wie eine kleine Elfe, eine richtige Prinzessin. Ich rieb mir erneut Augen und stieß einen tiefen Seufzer aus.
»Wow, diese blauen Augen. Wie kann so ein nettes Wesen nur in diese Zwischenwelt kommen?«, dachte ich laut.
Das Mädchen schaute mich mit großen, sanften Augen, zugleich freundlich, aber auch skeptisch, an. Nervös wirbelte sie mit einer Hand eine goldblonde Strähne durcheinander. Sie sah einfach bezaubernd aus. Der Raum begann zu knistern. Dann wurde ich abrupt aus meinen Träumen gerissen. Mir stockte der Atem und ich zuckte heftig zusammen, als mich der Herrscher erbost anfuhr.
»Halts Maul du elender Nichtsnutz. Meine Tochter ist für dich tabu, du Blutfresser. Was willst du hier? Du bist doch ein Vampir, oder? Ihr Vampire habt in dieser Welt nichts zu suchen. Vampire sind dazu verdammt, in der richtigen Welt zu leben. Als Strafe für dieses Eindringen wirst du mir für immer und ewig dienen müssen. Du wirst in meiner grausamen Welt, dem ganzen Abschaum hier«, er deutete dabei auf seine beiden Diener, »dienen müssen und dir noch wünschen, du hättest niemals den Wunsch gehabt, diese Welt zu erkunden!«
Die laute, feste Stimme des Herrschers hallte durch den ganzen Saal. Ich erschauderte abermals. Dieser Typ würde mir hier die Hölle heiß machen, soviel war klar. Er schien uns Vampire nicht besonders zu mögen. Aber dennoch überkam mich ein wohliges Gefühl. Ich ignorierte einfach den bösen Herrscher und schaute die ganze Zeit dieses bezaubernde Wesen an. Darüber wurde der Herrscher nun erst richtig sauer. Er lud eine Schimpfkanonade nach der andern auf mich ab. Doch ich hörte sein Fluchen nicht mehr. Ich war wie verzaubert von diesem elfenhaften Wesen. Meine Gedanken waren ganz woanders. Dieses Mädchen passte nicht in diese Welt. Wie war sie nur dorthin gekommen?
Ich spürte den verzückten Blick des Mädchens und senkte verlegen den Blick. Es lag Magie und Zauber in der Luft und ich vergaß die missliche Situation, in der ich mich befand. Als ich den Blick wieder hob, bemerkte ich, dass auch das Mädchen vor sich hin träumte. Sie sah einfach zauberhaft aus. Ich konnte nicht wissen, dass dieses Mädchen das einzige Wesen in der Zwischenwelt war, das hier nicht dazu passte und auch nicht hergehörte. Als ihr Vater und ihre Mutter in diese Zwischenwelt verdammt wurden, war ihre Mutter bereits mit ihr schwanger. Dies war jedoch unbemerkt geblieben, ansonsten hätte ihre Mutter dort niemals mit ihr eindringen dürfen. Das war auch der Grund, warum dieser Familie der Zugang zur Hölle versperrt blieb und der Herrscher so die Möglichkeit hatte, in dieser Zwischenwelt sein Reich aufzubauen. Das Mädchen war das einzige Wesen, das hier jemals geboren wurde und zugleich der einzig gute Mensch. Sie passte nicht in diese Welt. Doch sie hatte hier auch ihre eigene Welt, denn der liebe Gott hielt schützend die Hand über dieses unschuldige Kind. In ihrer Welt gab es eine traumhafte Wiese mit den schönsten Blumen in allen Farben, die man sich vorstellen kann. Das Böse dieser Welt bemerkte dieses Mädchen nicht und alles sah freundlich aus, inklusive ihrer Eltern. Sie nahm den Rest der Zwischenwelt nicht wahr, der aus bösen Kreaturen, schlechten Menschen und Tieren bestand, die es nicht einmal verdient hatten in der Hölle, im Fegefeuer verbrannt zu werden. All diese Wesen würden erst alle Qualen in dieser Zwischenwelt erleben müssen, um dann in der Hölle Einlass zu finden. Doch die wenigsten schafften es aus dieser Zwischenwelt zu entkommen. Dies war nämlich nur möglich, wenn sie es schafften, in dieser Welt eine gute Tat zu vollbringen. Das jedoch vermochte der Herrscher fast immer zu verhindern. Nachdem hier jeder gegen jeden kämpfte und jeder nur auf sein eigenes Wohl bedacht war, war dies ein beinahe unmögliches Unterfangen. Und diejenigen, die es dennoch versuchten, wurden vom Herrscher kaltblütig geköpft und wurden so zu seiner wartenden Armee.
»Du mieser kleiner Vampir, hör endlich auf meine Tochter so anzustarren! Ich warne dich zum letzten Mal! «, fuhr mich der Herrscher an und riss mich so erneut aus meinen Träumen.
Der Herrscher war die Realität und leise begann sich das Übel, das hier auf mich wartete, in mir auszubreiten. Ich musste versuchen gut Freund mit dem bösen Herrscher zu werden, damit ich ihn umstimmen konnte, mich wieder gehen zu lassen.
»Lieber Herrscher, ich komme als Freund, lassen Sie mich bitte wieder gehen! Es war nur ein Versehen, dass ich hier gelandet bin, es war dieses doofe Vamuraibuch. Ich kann doch nichts dafür und ich bin viel zu jung, um hier zu bleiben!«
Der Herrscher schaute mich mürrisch an und schüttelte energisch seinen Kopf. »Nichts da, mein Freund, du bleibst hier und wirst für mich arbeiten!«
Er blieb hart und unbarmherzig und schien froh darüber, dass ich ihm in die Quere gekommen war.
»Du wirst es niemals schaffen, aus dieser Zwischenwelt wieder heil herauszukommen. Besser du gewöhnst dich gleich an diesen Gedanken«, meinte das Warzenmonster, sah mich dabei mit einem grimmigen Blick an und fing laut an zu lachen, „du wirst dir noch wünschen, du hättest diesen Wunsch hier herzukommen niemals ausgesprochen! Hö Hö!«
Doch man sah ihm an, wie er unverhofft innerlich zusammenzuckte. Er wirkte von einem Augenblick zum anderen sehr nachdenklich. Es schien, als würde ich ihn an irgendjemanden erinnern. Hasserfüllte Augen begannen mich zu durchbohren. Es war, als würde er einen Laserstrahl auf mich richten. Ein Hitzeschwall durchzog meinen Körper und trieb mir die Schweißporen auf die Haut. Übelkeit machte sich auf meinem Gaumen breit. Ich wollte sie hinunterschlucken, doch es fühlte sich an, als ob ein Klos im Hals den Weg versperren würde. Plötzlich stand der Herrscher auf und kam auf mich zu. Erschrocken machte ich einen Satz zurück und stolperte dabei rücklings.
»Bleib sofort stehen, du Nichtsnutz!«, brüllte er mich an und stellte sich breitbeinig vor mich.
Ich lag wie eine hilflose Schildkröte auf dem Rücken vor ihm und starrte ihn ängstlich an. Diese unterwürfige Haltung machte den Herrscher allerdings noch dominanter und wütender.
»Verdammter nichtsnutziger Vampir. Du wirst mir dienen und in der Kammer die Köpfe einsammeln. Dann wirst du diese in ein Feld deiner Wahl stecken! «, befahl er, packte mich am Genick und hob mich hoch. Dann zog er mich an sein ekliges, stinkendes Gesicht heran. Ich konnte seinen üblen Atem riechen, musste würgen und verzog angewidert das Gesicht.
»Damit wirst du die nächste Zeit beschäftigt sein«, brüllte der Herrscher und mit einem Blick auf seine Tochter gerichtet, »lass ja die Pfoten von meiner Tochter, sonst wirst du es bereuen.«
Seine Tochter wunderte sich offenbar auch über den Gefühlsausbruch ihres Vaters und sah ihre Mutter ängstlich und fragend an, doch diese zuckte nur mit den Schultern.
Der Herrscher lachte laut auf und sein tiefes, hämisches Lachen ließ mich erneut erschaudern. Es klang einfach nur grausam und böse.
Ich soll also die Köpfe von einer Kammer holen und sie dann auf die Felder bringen. Woher kommen diese Köpfe?
Vor lauter Angst verschlug es mir die Sprache. Ich wollte eigentlich den Herrscher danach fragen, brachte aber keinen Laut heraus.
»Was stehst du denn noch so dumm da, mach dich endlich auf die Socken, sonst gibt es kein Abendessen! Nur wer hier arbeitet, bekommt etwas zu essen!«, grollte er abermals und ließ mich los. Angewurzelt blieb ich vor ihm stehen.
Dann befahl er seinen zwei Kreaturen mich abzuführen. Sie brachten mich in einen großen Saal, indem viele Köpfe lagerten.
»Woher kommen denn die ganzen Köpfe?«, fragte ich meine beiden Bewacher und starrte mit offenem Mund in die Kammer. Ein riesiger Saal nur gefüllt mit Köpfen. Sie schienen auf irgendetwas zu warten und starrten mich mit hohlen Augen an.
»Halts Maul und fang endlich an zu arbeiten, das wirst du schon noch mitbekommen, wie die Köpfe hier hereinkommen«, rief die eine Kreatur und stieß mich in die Kammer hinein.
Der andere meinte grölend: »Wenn du nicht sofort anfängst zu arbeiten, landet dein Kopf auch hier in der Kammer, hä hä.«
Das war es also. Der Herrscher ließ den Leuten einfach die Köpfe abschlagen. Warum nur? Und warum lebten diese weiter und waren nicht tot.
Ich blickte über die ganze Armee von Köpfen im Saal, wie sollte ich das bloß schaffen? Doch ich hatte keine Wahl, ich musste gehorchen. Es war furchtbar laut in dieser Kammer. Überall lagen die abgetrennten Köpfe herum und wimmerten. Ich hielt mir verzweifelt die Ohren zu.
»Seid doch endlich still!«
Die Köpfe redeten einfach weiter und beachteten mich nicht sonderlich. Abermals lief mir ein eiskalter Schauer den Rücken hinunter und ich war kurz davor umzukehren. Unverhofft bekam ich Angst davor, geköpft zu werden. Der Weg nach draußen war durch die Kreaturen versperrt, es half also alles nichts. Ängstlich betrat ich den Saal und ging bedächtig an den Köpfen vorbei. Es war ein fürchterlicher Anblick und schlagartig ekelte es mich vor ihnen.
»Rette uns«, rief auf einmal einer der Köpfe. »Nur du kannst uns retten – befreie uns von unserem Fluch. Du kannst es wirklich, denn du bist kein Wesen dieser Zwischenwelt. Du bist freiwillig hier.«
Ich blieb abrupt stehen und schaute den Kopf ganz verdattert an.
»Woher willst du das wissen?«, fragte ich ihn neugierig, »du kannst das gar nicht wissen, ich bin doch erst ganz kurz hier. Woher weißt du, dass ich hier nicht hergehöre und dass ich freiwillig hier bin?«
»Ich weiß, dass du ein Vampir bist, weil ich die Verbindung mit dem Vamuraibuch hergestellt habe«, meinte der abgetrennte Kopf und fixierte mich nachdenklich von oben bis unten. »Ich war es, der das Buch dazu gebracht hat, dich in diese Zwischenwelt zu befördern. Ich wollte, dass du uns vor diesem grausamen Herrscher befreist. Der Herrscher weiß nicht, dass ich über das Vamuraibuch Kontakt zur Welt aufnehmen kann. Das darfst du ihm auch niemals sagen.«
Ich starrte den Kopf gebannt an und nickte. Dieser erzählte weiter, was er alles vom Herrscher der Zwischenwelt wusste. Ich staunte nicht schlecht, als er mir von dessen unglaublichen Taten und Plänen erzählte.
»Diese Kreatur ist schuld daran, dass seit langem niemand mehr aus dieser Zwischenwelt in die Hölle konnte. Alle müssen zu seinen Untertanen werden und nicht einmal der Teufel hat eine Handhabe gegen ihn, da der Herrscher das Tor zur Hölle verschlossen hat. Jeder, der versucht, sich dem Herrscher entgegenzustellen oder eine gute Tat zu vollbringen, wird von ihm geköpft und ist ihm ausgeliefert – keiner hat eine Chance gegen ihn. Der Herrscher wird immer mächtiger. Er versammelt eine dunkle Armee und vereint die bösen Mächte. Irgendwann will er mithilfe seiner unschuldigen Tochter zurück in die normale Welt, um diese mit dem Bösen zu infizieren.«
Der Kopf schnaufte und verzog angewidert den Mund.
Ich zuckte innerlich zusammen.
Indessen erzählte dieser ungebrochen weiter: »Nur durch die Hilfe seiner Tochter kann er dies erreichen. Doch das Mädchen weiß nichts davon. Sie glaubt an das Gute in ihrem Vater und sieht seine Grausamkeiten nicht. Wenn Sie größer ist, wird sie in der Lage sein, mithilfe des Vamuraibuches das Tor zur Welt zu öffnen. Dann kann der Herrscher die Welt mit dem Bösen überschwemmen und die Macht auf der Erde übernehmen.«
Ein Schauer durchzog meinen jungen Körper und es fröstelte mich, was bei einem Vampir sehr ungewöhnlich war. In dieser Zwischenwelt war anscheinend alles möglich. Der Kopf fuhr unbeirrt fort: »Dem Herrscher fällt dies leicht, denn die Menschen auf der Erde werden immer egoistischer, rachsüchtiger und verlogener. Sie bekriegen sich im Kleinen und im Großen und haben weder Respekt voreinander, noch vor anderen Lebewesen oder der Natur. Sie vergehen sich immer mehr an ihr und zerstören diese. «
»Das ist unmöglich, das kann nicht sein. So schlimm ist meine Welt auch wieder nicht. Es gibt viele gute Menschen und die werden sich dagegen wehren. Das Gute wird das Böse auf Erden bekämpfen. Niemals wird der Herrscher meine Welt kaputt machen ich werde das verhindern!«
Ich war verzweifelt, doch dadurch wurde auch mein Kampfgeist geweckt. Ich musste mit all meiner Macht das Böse aufhalten und wollte alles ganz genau von diesem Kopf wissen. Fieberhaft überlegte ich, was ich dagegen machen könnte und wirre Gedanken schwirrten in meinem Kopf herum.
Wie kann der Herrscher durch das Vamuraibuch wieder auf die Welt zurückkommen? Was hat das mit dem kleinen blonden Mädchen zu tun?
In Gedanken spielte ich bereits den Retter der Welt.
»Wie du bestimmt schon ahnst, ist seine Tochter Chania das einzige Wesen, das nicht in diese Zwischenwelt gehört. Sie ist ein freundliches, reines Wesen und sie könnte es schaffen, den blauen Tunnel für ihre Rückkehr in die Welt zu öffnen.«
Der Kopf fokussierte mich noch intensiver. Ich spürte seinen Blick so heftig, als würde er jeden Winkel meiner Gedanken erforschen. Dann überlegte er kurz und sprach folgende Worte sehr bedächtig und auf eine sehr eindringlich Art und Weise: »Du darfst mich niemals auf ein Feld bringen, sonst kann ich dir nicht mehr helfen. Nur von dort aus besteht noch eine Chance für die Köpfe, in die Hölle zu wandern, doch der böse Herrscher hat das Tor zur Hölle versiegelt. Es kann keiner mehr durch und alle Köpfe sind in der Zwischenwelt gefangen. Es sind schon viele tausend und es werden täglich mehr. Bis der Herrscher seine Armee fertig hat und die Invasion auf der Erde beginnt.«
»Ich muss sie zerstören«, murmelte ich.
»Nein, das würde nichts bringen und du würdest den Hass des Herrschers auf dich ziehen. Wir müssen warten, bis seine Tochter soweit ist. Nur mit ihr kannst du das Böse aufhalten.«
»Wie will der Herrscher seine Armee auf die Erde bringen?«, fragte ich den Kopf interessiert.
»Wenn der Tunnel zur Welt einmal offen ist, dann kann ihn jeder benutzen und seine Armee kann unbemerkt in die Welt. Da die Tochter ihren Vater über alles liebt, wird sie nicht merken, dass durch sie der Tunnel in den jeweiligen Kontinent offenbleibt und so das Tor für die Armee öffnet. Wie alles genau von statten gehen soll, weiß ich leider auch nicht. Bis jetzt weiß seine Tochter nichts von ihrer Gabe, dazu muss sie erst älter werden. Außerdem muss der Herrscher warten bis seine Gefolgschaft groß genug ist.«
»Das ist ja schrecklich. Das müssen wir verhindern«, seufzte ich.
»Ja, aber das ist noch nicht alles. Dieser Mistkerl hat außerdem eine Möglichkeit gefunden, böse Menschen in der normalen Welt zu beeinflussen und sie noch böser zu machen. Ich weiß leider nicht wie er es macht, aber er kann sie dazu bringen Dinge zu tun, die so schlecht sind, dass sie irgendwann in diese Zwischenwelt gelangen. Danach verwandeln sie sich alle in diese Kreaturen.«
»Aber warum muss er diese Kreaturen dann überhaupt köpfen - was ergibt das für einen Sinn?«
Der Kopf überlegte kurz und rümpfte die Nase. »Das ist eine gute Frage, die ich dir leider nicht beantworten kann. Ich weiß nur, dass er mit dem ganzen Gefolge in die Welt zurückkehren will. Vielleicht geht das nur mit den Köpfen. Auf alle Fälle wird so der ganze Abschaum, den es jemals in der Welt gegeben hat, zurückkehren. Die Welt würde überschwemmt werden vom Bösen und Gewalt. Das wäre eine Katastrophe.«
Der Kopf stöhnte leise auf. Er wirkte jetzt sehr deprimiert und hilflos.
»Sag mal - ich will dir ja nicht zu nahe treten - gehörst du nicht auch zum Abschaum der Welt, nachdem du hier bist? Hast du Böses getan?«, fragte ich den Kopf schüchtern und fuhr zweifelnd fort, »warum willst du denn die Welt retten? Was hast du für ein Interesse daran?«
Der Kopf senkte verlegen den Blick.
»Ich bin noch nicht lange in dieser Zwischenwelt. Ich bereue alles, was ich getan habe. Ich war nicht ich selbst, als ich diese grausamen Taten getan habe – ich war doch auch nur ein Vampir. Der Herrscher hatte mich beeinflusst und ich habe viele Menschen getötet. Aber ich bereue meine Taten. Sie wären nicht für mein Überleben notwendig gewesen. Ich hätte diese Menschen nicht gleich töten müssen«, seufzte der Kopf und fuhr fort, »meine Familie lebt noch auf der Welt und ich möchte einfach nicht, dass ihnen Böses angetan wird. Ich muss sie und die anderen retten!«
Der Kopf wirkte jetzt völlig verzweifelt und es war fast so, als würde er anfangen zu weinen.
Ich sah, dass es ihm sehr ernst war. Ich überlegte, ob ich ihm erzählen sollte, dass es auf der Welt nur noch meine Vampir Familie gab. Doch ich wollte ihm nicht all seine Illusionen nehmen. Ich beschloss also alles, was in meiner Macht stand, zu tun, um den Herrscher der Zwischenwelt aufzuhalten und die Welt zu retten.
»Was kann ich tun, um ihn aufzuhalten? Ich will alles versuchen, aber ich weiß nicht, wie ich das machen soll!« Mein Gesicht versteinerte sich zu einer ernsthaften Miene. Auf die Schnelle fiel mir nichts ein.
Der Kopf zuckte leicht mit den Augenbrauen, doch dann erhellte sich sein Gesicht.
»Möglicherweise können wir ihn dazu bringen, seiner Tochter etwas Gutes zu tun. Dann müsste er aus der Zwischenwelt verschwinden und das Tor zur Hölle wäre wieder offen. Dann könnten alle, die Gutes tun wollten, diese Welt wieder verlassen und Ruhe finden«, meinte der Kopf nachdenklich und fixierte mich, als hoffe er auf meine Zustimmung.
Doch ich blieb stumm.
Nachdenklich fuhr der Kopf deshalb mehr zu sich selber fort: »Na gut, das wird wahrscheinlich bei dem grausamen Herrscher nichts mehr bringen. Er hat schon zu viel verbrochen. Da wird auch eine gute Tat nicht ausreichen!«
Er überlegte kurz und forderte mich dann eindringlich auf: »Du musst auf alle Fälle versuchen meinen Kopf hier zu lassen. Nur dann können wir regelmäßig kommunizieren. Wenn ich erst mal auf einem Feld gelangt bin, wirst du mich nicht mehr wiederfinden.«
Ich nickte. Zwar hatte ich den letzten Satz nicht wirklich verstanden, doch ich gehorchte und sah mich in der Kammer nach einem geeigneten Versteck um. Ich fand einen Mauervorsprung, der mir sehr gefiel und dem Kopf als Versteck dienen sollte. Vorsichtig nahm ich den Kopf in die Hand und stellte ihn dort ab.
»Ich werde erst mal verschwinden müssen, um die anderen Köpfe auf die Felder zu bringen«, meinte ich, »der Herrscher darf nicht misstrauisch werden. Ich werde dir vorsichtshalber noch einen Krug überstülpen, damit dich keiner entdeckt. Ich werde versuchen, bald wieder zu kommen. Vielleicht fällt dir bis dann eine Lösung ein.«
Mit diesen Worten schnappte ich mir den nächstbesten Kopf und Pfahl und machte mich auf die Suche nach einem geeigneten Feld. Doch das war gar nicht so einfach. Kaum dachte ich ein leeres Feld entdeckt zu haben, verwandelte sich dieses Feld in ein Neues. Der Herrscher hatte vorgesorgt und hatte die Felder verhext. Damit keiner bestimmte Felder ausfindig machen konnte und bestimmte Köpfe suchen konnte, wechselten die Felder sich immer ab. In dieser Zwischenwelt war einfach alles möglich. Darum also hatte der Kopf gemeint, ich würde ihn sonst nicht wiederfinden. Es wurde mir plötzlich bewusst, dass ich es mit einem sehr ernst zu nehmenden Gegner zu tun hatte. Konnte ich ihn überhaupt ohne fremde Hilfe besiegen? Würde mir das Mädchen dabei helfen?
»Ich muss möglichst bald mit ihr reden«, grummelte ich, dabei blickte ich mich um und sah, dass meine Bewacher mich nicht aus den Augen ließen. Keine Chance mich zu verdrücken. Ich musste sehr vorsichtig sein, damit sich meine Bewacher auf der sicheren Seite fühlten. Erst wenn sie mir vertrauten, würden sie nachlässiger werden. So brachte ich immer wieder neue Köpfe auf die Felder und arbeitete unermüdlich weiter. Es war eine sehr anstrengende Arbeit und viele der Köpfe schrien so laut, dass mir bald die Ohren dröhnten. Es war zum Verzweifeln. Ich hatte bald das Gefühl wahnsinnig zu werden. Da fiel mir ein, dass ich noch ein Papiertaschentuch einstecken hatte. Ich teilte es und steckte mir die Tücher in die Ohren. Jetzt wurde es erträglicher und ich konnte besser denken. Ich arbeitete weiter bis zum Umfallen und brachte immer mehr Köpfe auf die Felder.
Wieso wird dieser verfluchte Raum nicht leer? Wie konnten die Köpfe in dem Raum immer wieder nachwachsen? Wie schafft es der Herrscher nur, die Menschen so schlecht zu machen, dass immer wieder neue Köpfe nachkommen?
Fragen über Fragen. Auch keiner der Köpfe konnte mir diese Fragen beantworten. Nur eines fand ich heraus. Jeder dieser Köpfe war ein Gegner des Herrschers gewesen und jeder von ihnen, hatte versucht, in die Hölle zu gelangen und hatte sich ihm entgegengestellt.
»Der Herrscher muss ganz schön viele Gegner in der Zwischenwelt haben«, murmelte ich und wischte mir den Schweiß vom Gesicht, »ist diesem Mistkerl denn keinem gewachsen?«
Ich schaute kurz nach dem Kopf, der immer noch unter dem Krug versteckt war. »Sag mal Kopf, kann es sein, dass die Menschen, die der Herrscher auf so heimtückische Weise in die Zwischenwelt gelotst hat, dann doch noch zur Besinnung kommen und versuchen, gegen das Böse anzukämpfen? Vielleicht wehren sie sich ja.«
Der Kopf hatte gerade ein Nickerchen gemacht und blickte mich mit großen, fragenden Augen an. »Mm, das könnte natürlich sein. Es ist nicht ganz auszuschließen«, meinte er nachdenklich und räusperte sich, »du könntest damit tatsächlich recht haben. Und du bist wohl unbewusst zum Hilfsmittel des Herrschers geworden. Seit du da bist geht alles viel schneller.«
Der Herrscher hatte wohl genau gewusst, dass ich ihn seiner Sache schnell näherbringen würde. Vielleicht konnte diese Arbeit konnte nur ein Wesen aus der normalen Welt für ihn erledigen. Das Problem löste sich allerdings wie von selbst, weil ich durch die viele Arbeit schneller müde wurde. Ich schlief einfach in der Kammer der Geköpften ein, ohne vorher noch etwas zu essen. Ich hatte auch wirklich viel erlebt. Zu viel für einen jungen Vampir.
So vergingen die Tage und ich hatte keine Zeit mehr über meine Flucht nachzudenken. Ich war in seinen Bann geraten und arbeitete bis zum Umfallen. Nur einmal, als ich gerade dabei war, einen Kopf auf ein Feld zu bringen, kam mir die Flucht in den Sinn. Ich fand die wunderschöne Wiese von der Tochter des Herrschers. Es gab in dieser verfluchten Welt tatsächlich eine schöne Wiese mit Blumen und einem kleinen Weiher. Hier war die Welt des kleinen Mädchens. Wie diese schöne Wiese in dieser grausamen Welt überhaupt entstehen konnte, war mir ein Rätsel. Doch auch hier hatten wohl irgendwelche Mächte ihr Spiel. Ein so reines Wesen in einer so schlechten Welt, musste einfach eine so schöne Wiese besitzen. Niemanden von den Kreaturen, auch nicht dem Herrscher und seiner Frau, war es vergönnt, diese Wiese zu betreten. Sie konnten sie nicht einmal sehen. Das konnten nur das kleine Mädchen und ich. Warum ich es konnte? Vermutlich weil ich zwar ein Vampir, aber trotzdem ein reines Wesen war. Ich hatte mir noch nie wirklich etwas zuschulden kommen lassen. Wann immer es mir möglich war, ruhte ich mich deshalb auf dieser Wiese aus. Ich lag auch an diesem Tag in der Wiese und verschnaufte ein bisschen, als plötzlich die Tochter des Herrschers vor mir stand.
»Hallo du«, meinte sie, »was machst du auf meiner Wiese? Ich dachte immer, diese Wiese würde nur in meiner Einbildung bestehen, weil nur ich sie sehen kann.«
»Hallo, ich bin Maximus. Du träumst nicht, auch ich kann diese Wiese sehen. Es ist ein wunderschöner Ort – so ganz anders als der Rest der Zwischenwelt. Ich war schon öfters hier, wenn ich mich von der anstrengenden Arbeit erholen wollte und habe dich gesucht. Aber du warst nie da.«
»Meine Eltern wissen nichts von meiner Wiese. Das ist mein Geheimnis. Freut mich, dich endlich kennenzulernen. Ich heiße Chania.«
Eine leichte Röte durchlief ihr Gesicht.
Ich räusperte mich: »Mhm, ein schöner Name. Du verrätst mich auch nicht? Wenn du das deinem Vater erzählst, dann sperrt er mich bestimmt in ein dunkles Verlies ein.«
»Nein, Maximus ich werde dich nicht verraten. Das würde mein Vater außerdem nie tun. Ich bin froh, hier in dieser Welt endlich einen Freund gefunden zu haben. Du willst doch mein Freund sein?«
In ihrer Stimme klang eine leise Verzweiflung und Hoffnung. Zögerlich reichte sie mir ihre zarte Hand, die leicht schwitzte. Auch ich war sehr aufgeregt, als ich Chania meine Hand reichte. »Natürlich will ich dein Freund sein.«
Wir betrachteten uns eine Weile schweigend. Keiner verlor ein Wort. Doch wir verstanden uns auch ohne große Worte. Dann durchbrach lautes Getrampel die schöne Stimmung und tiefe Stimmen durchdrangen den Schutzschild dieses Paradieses.
»Wo ist denn dieser Mistkerl eigentlich, dieser faule Nichtsnutz!«
Chania erschrak. »Meinen die dich?«
»Ich glaube ja, ich muss leider gehen, sie suchen nach mir«, erwiderte ich traurig und verließ schnellen Schrittes die Wiese. Ich trat unschuldig vor sie, als ob ich gerade von einem Feld käme.
»Da ist er ja«, rief eine der Kreaturen.
Ein anderer schnappte mich und packte mich an der Jacke. »Denk nur nicht du könntest hier treiben, was du willst. Du bist hier zum Arbeiten.«
»Ich arbeite doch, ich habe mich nur etwas verlaufen. Bringt ihr mich zum Schloss?«
»Du elender Nichtsnutz«, rief die andere Kreatur, »mach dich sofort wieder an die Arbeit. Du kannst doch alleine zum Schloss laufen, es ist doch da vorne! Verschwinde endlich!« Er ließ mich abrupt los und stieß mich dabei in Richtung des Schlosses.
Während ich mich in der Zwischenwelt behaupten musste, waren meine Eltern mit den Vorbereitungen für das Vampirbaby beschäftigt. Das Kinderzimmer war bereits eingerichtet, allerdings zunächst unten in der Gruft, denn die Spezialcreme konnten sie bei dem Baby noch nicht anwenden. Sie mussten vor allem aufpassen, dass das Baby nicht tagsüber geboren wurde. Das hieß, dass Gräfin Vamus das Schloss nicht mehr verlassen durfte. So musste sich die Gräfin wohl oder übel häuslich in der Gruft einrichten. Das tat sie natürlich auf ihre Art und Weise und so wurde selbst dieser schreckliche Ort noch gemütlich. Graf Vamus erkannte die Gruft nicht wieder, als er nach Hause kam.
»Du schaffst es selbst aus diesem Ort einen gemütlichen Platz zu machen. Jetzt kann unser Baby kommen. Morgen ist Vollmondnacht. Da müsste das Vampirbaby auf die Welt kommen«, meinte Graf Vamus, streichelte dabei seiner Frau sanft den Babybauch und fuhr fort: »Morgen ist die Nacht der Nächte. Das Vamuraibuch hat mir gesagt, dass für einen kurzen Augenblick die Zwischenwelt aus allen Fugen geraten wird.«
»Wie meinst du das?«, fragte Gräfin Vamus erstaunt und ängstlich zugleich. »Hast du etwa das Buch gefragt? Was passiert in diesen Minuten?«
»Für einen kurzen Augenblick wird sich das Loch auftun. Vielleicht schafft es unser Junge dann zu entfliehen. Ich muss es ihm sofort mitteilen.«
Das Vamuraibuch hatte dem Grafen auch mitgeteilt, dass er zu seinem Jungen durch das Buch Kontakt aufnehmen könne. Deshalb ging er erneut in das Kaminzimmer und blieb skeptisch vor dem Vamuraibuch stehen. Er überlegte kurz, ob er es wirklich wagen sollte und begann dann mit dem Buch zu sprechen.
»Kannst du mir helfen?«, fragte er zögerlich, »wie kann ich mit meinem Jungen Kontakt aufnehmen und ihm meine Worte mitteilen. Ich muss ihm doch Bescheid geben, dass sich bei der Geburt des Babys das Zeitfenster kurz öffnet.«
Graf Vamus war ganz aufgebracht und nervös. Er konnte die Antwort des Buches kaum abwarten. Doch das Vamuraibuch musste nicht lange überlegen und es fing an Worte zu schreiben. ‚Sprich deine Worte – ich schreibe sie auf. So wird es gelingen, das Maximus sie hört.‘
Graf Vamus stöhnte erleichtert auf. Das war ja leichter als er gedacht hatte. Er setzte sich genau vor das Vamuraibuch und berührte leicht die Seiten am Rande. Das Buch reagierte darauf mit blauem Rauch. Er zögerte kurz und dann fing er leise und bedächtig in das Buch zu sprechen.
»Maximus – hörst du mich? Hier ist dein Vater. Morgen wird unser Vampirbaby auf die Welt kommen. Die Zwischenwelt wird für einen kurzen Augenblick aus den Fugen geraten. Ein Zeitfenster in Form eines blauen Tunnels wird sich auftun und dort wo du gelandet bist, wirst du in unsere Welt zurückgelangen können. Nutze diese Chance und komm zu uns zurück. Wir brauchen dich!«
Das Buch schrieb alles auf, was Graf Vamus gesagt hatte. Dieser war erleichtert und froh, dass er nicht selber in die Zwischenwelt eindringen musste, um seinen Sohn zu retten. Er konnte jetzt durch die Geburt seiner Schwester selber fliehen.
Ich hielt gerade auf der Wiese mein Mittagsschläfchen und wartete auf Chania. Papa? Ist das nicht Papas Stimme? Kann das sein? Woher kommt sie?
Noch etwas benommen blickte ich mich um, konnte aber niemand entdecken. Ich rieb mir die Augen und glaubte zu träumen. Dennoch breitete sich ein Glücksgefühl in meinem Körper aus. Es musste wahr sein und eigentlich war es mir egal, woher die Stimme kam. Ich war einfach nur glücklich ihn zu hören. Ich bekomme morgen ein Geschwisterchen. Ein zufriedenes glückliches Lächeln spiegelte sich in meinem Gesicht wider. Was hat Papa gesagt? Ein Zeitfenster, ein Tunnel? Ich muss zu meiner Familie zurück - sie brauchen mich. Wo ist nur dieser Tunnel, damit ich zurück komme?
Ich zögerte nicht lange und machte mich sogleich auf den Weg in die Kammer der Köpfe, um Rücksprache mit dem Kopf zu nehmen. Was würde er nur dazu sagen? Hoffentlich wird er nicht sauer. Mein ganzer Körper war angespannt und vor lauter Nervosität zuckten meine Gesichtsmuskeln. Was wird nur aus der Zwischenwelt werden, wenn ich sie verlasse - aus Chania - und wie kann ich, dann meine Welt vor dem bösen Herrscher der Zwischenwelt retten? Fragen über Fragen quälten mich auf dem Weg zur Kammer. Ohne meine Anwesenheit könnte der Herrscher vielleicht ungehindert an seinem Plan weiter arbeiten, um die Welt zu vernichten. Das darf niemals geschehen. Ich beschleunigte meinen Gang und lief jetzt immer schneller zur Kammer, denn ich musste schnellstmöglich mit dem Kopf reden. Dort angekommen hob ich den Krug hoch und erzählte dem überraschten Kopf aufgebracht, was vorgefallen war. Der Kopf hörte mir aufmerksam zu und versuchte mich zu beruhigen.
»Mach dir keine Sorgen Maximus. Es dauert noch lange, bis der Herrscher ein Gefolge hat, das groß genug ist die Erde zu vernichten. Du kannst einstweilen ruhig den Tunnel des blauen Lichtes benutzen, um zu deiner Familie zurückzukehren. Lass mich einfach hier in diesem Versteck. Ich werde eine Möglichkeit finden, zur gegebenen Zeit mit dir Kontakt aufzunehmen. Der Herrscher wird seine Tochter ohnehin erst für seine Zwecke benutzen können, wenn diese älter ist. Vertraue mir, es wird nichts passieren, bis du wieder kommst. Du kennst ja jetzt den Weg in die Zwischenwelt und kannst jederzeit zurückkehren.«
Mir fiel ein Stein vom Herzen, der Kopf nahm es mir nicht übel. Er blickte mich freundschaftlich an, doch dann bekamen seine Augen einen eindringlichen Blick. Er sprach die folgenden Worte mit Bedacht: »Du darfst niemals – ich wiederhole niemals das Buch aus Versehen schließen. Nur wenn das Buch weiterhin geöffnet bleibt, kann ich mit dir Kontakt aufnehmen.«
Ich nickte. Die Worte des Kopfes wirkten sehr besonnen und beruhigten mich etwas. Ich würde also zu Hause genügend Zeit haben, um in meiner Welt an einem Plan zu arbeiten. Mein Vater konnte mir dabei bestimmt helfen. Auf einmal bekam ich fürchterliches Heimweh und verabschiedete mich deshalb schnell vom Kopf. Dabei hatte ich einen großen Klos im Hals und Tränen in den Augen.
»Ich werde zurückkommen und ich werde dir helfen. Wenn du mich brauchst, komme ich zurück.«
Ich strich dem Kopf sanft über die Wange, stülpte den Krug wieder über ihn und verließ den Raum. Irgendwie hatte ich ihn in dieser kurzen Zeit liebgewonnen und wunderte mich über meine Gefühle. Tja, wenn ich die Wahrheit gewusst hätte! Jetzt musste ich nur noch unbemerkt in den Wald kommen. Ich wartete den Abend ab, da meine Bewacher dann immer essen gingen und mich aus den Augen ließen. Mittlerweile hatten sie ohnehin schon etwas das Interesse an mir verloren und ich konnte mich freier bewegen. Als sie verschwunden waren, schnappte ich mir einen neuen Kopf und einen Pfosten. Ich war auf der Suche nach dem Wald, aus dem ich gekommen war. Damals war ich geradlinig auf das Schloss des Herrschers zugelaufen. Diesen Weg musste ich finden und dann durfte ich ihn nicht mehr verlassen, bis ich in den Wald kam. Mein Weg führte mich vorbei an vielen Feldern. Die versuchten mich immer wieder in die Irre zu führen und vom rechten Weg abzubringen. Immer wenn ich an einem vorbeiging, riefen mir die Köpfe nach: »Lass ihn hier den Kopf, er ist für dieses Feld bestimmt. Du musst durch dieses Feld gehen, dann kommst du an dein Ziel.«
Die Stimmen waren so fordernd und eindringlich, dass ich Mühe hatte, ihnen nicht auf den Leim zu gehen. Hätte ich den Kopf auf ein Feld gesetzt, wäre dieses Feld wieder weiter gewandert und ich wäre zurück zum Schloss gekommen. Ich hätte niemals den Wald erreicht. Doch ich blieb hartnäckig und versuchte die Stimmen zu ignorieren. Es kostete mich viel Mühe und es dauerte lange, bis ich den Wald in weiter Ferne sah. Das war bestimmt wieder das Werk des bösen Herrschers gewesen. Er wollte bestimmt nicht, dass ich mich zu weit vom Schloss entfernte und so ließ er die Köpfe immer wieder diesen Satz sprechen. Doch ich war hartnäckig geblieben und immer geradeaus weiter gegangen. Da mir der Herrscher die freie Wahl der Felder zugesichert hatte, konnte ich so ungehindert weiter gehen. Mittlerweile war es bereits dunkel geworden, als ich endlich den düsteren Wald erreichte. Irgendwo hier musste ich herausgekommen sein. Ich erinnerte mich an einen großen Baum, eine mächtige Eiche, die am Ausgang des Waldes gestanden war. Kurz davor stülpte ich noch den Kopf auf einen Pfahl und steckte ihn in das letzte Feld.
»Falls dich jemand nach mir fragt, weißt du von nichts, verstanden! Du wirst sonst ewig auf diesem Pfahl sein!«
Der Kopf schaute mich zwar grimmig an, machte dann aber gleichgültig die Augen zu und verschwand inmitten der Köpfe. Das Feld begann sich zu drehen und schon war er verschwunden. Schnellen Schrittes rannte ich zur großen Eiche. Dort blieb ich kurz stehen, weil ein kurzer Schauer meinen Körper durchzog. Ich erinnerte mich meine Ankunft und es gruselte mich leicht, dort erneut hineinzugehen. Doch es half nichts. Ich musste zurück an die Stelle wo ich anfangs gelandet war. Hoffentlich war ich hier richtig. Wenn das hier nicht die richtige Stelle wäre, dann wäre alles verloren.
Zielstrebig suchte ich nach der Lichtung. Der böse Herrscher kam mir in den Sinn und ich fragte mich, was er mit mir anstellen würde, wenn er mich fände, bevor sich das Zeitloch öffnet. Daran mochte ich jetzt gar nicht denken. Er würde mich bestimmt in ein grässliches Verlies stecken und dort versauern lassen. Und dann würde ich weder meine Familie, noch Chania wieder sehen.
»Chania«, murmelte ich, als ich gerade an eine Stelle kam, die mir bekannt vorkam. Wieso muss ich immer wieder an Chania denken?
Ein unbekanntes Gefühl machte sich in meinem Körper breit, als ich an dieses Mädchen dachte. Doch diese Gedanken wurden jäh unterbrochen, als ich feststellte, dass ich die richtige Stelle gefunden hatte. Ich hatte es tatsächlich geschafft und fragte mich, wie ich hier hergekommen war. Hatte mir irgendjemand aus meiner Welt dabei geholfen, diesen Platz zu finden? Ich war eine Weile wie in Trance gegangen. Plötzlich hörte ich Geräusche in weiter Ferne.
Sucht mich der Herrscher schon? Hoffentlich hat noch keiner mein Verschwinden bemerkt. Hoffentlich hat der Herrscher vom bevorstehenden Zeitloch nichts mitbekommen? Aber nein, woher sollte er denn das wissen, das konnte er gar nicht, das durfte er einfach nicht wissen.
Ich hoffte, dass die Macht des Herrschers nicht bis zum Schloss meines Vaters reichen würde und dass nur ich die Stimme meines Vaters gehört hatte. Langsam begann es richtig kalt zu werden in dem Wald, ich wurde immer ungeduldiger und lief ziellos im Kreis herum.
Wann öffnet sich dieser blöde Tunnel endlich?
Die Geräusche wurden langsam lauter. In weiter Ferne hörten sie sich wie Pferdegetrampel an.
Hoffentlich findet er mich nicht, bevor er sich öffnet!‘
Vor lauter Angst und Kälte fing ich an zu zittern. Gleichzeitig musste ich innerlich lachen. Zittern? Ein Vampir?
In dieser Zwischenwelt war wohl alles anders und so ganz alleine im Wald, ohne Familie und Freunde, und dann noch den Bösen Herrscher mit seinen Kreaturen im Nacken, das war wohl selbst mir, einem jungen Vampir, zu viel.
»Bitte beeile dich doch«, murmelte ich vor mich hin, »öffne dich endlich, bevor es zu spät ist.«
Das lange Warten zerrte an meinen Nerven. Ich spitzte die Ohren, die Geräusche waren immer noch weit entfernt – ich hatte also noch Zeit.
»Wo bleibt denn nur dieses blöde Zeitloch. Ich will hier endlich weg – heim zu meiner Familie.«, murmelte ich mehr zu mir selbst. Ich konnte nur hoffen, dass mich der Herrscher nicht vorher fand.
Im Schloss von Graf Vamus hingegen war es bald soweit. Das kleine Vampirbaby war kurz davor, auf die Welt zu kommen. Der Vollmond war bereits zu sehen und beleuchtete den dunklen Himmel. Doch davon sah Maximus in der Zwischenwelt nichts. Plötzlich zog sich der Himmel zusammen und veränderte sich. Er sah von einer Minute zur andern unheimlich aus. Ohrenbetäubende Geräusche, ein Blitzen und Krachen ertönte, wie es die Welt schon lange nicht mehr erlebt hat. Dann fielen aus dem Himmel blaue Lichter, wie Sternschnuppen und mit einem ohrenbetäubenden Schrei von Gräfin Vamus wurde das Vampirbaby geboren. Es war ein kleines süßes Mädchen, eine Schwester für Maximus. Die Eltern schlossen das kleine Wesen sanft in die Arme. Ein neuer Vampir war geboren. Ihr wundert euch sicherlich, wie das überhaupt möglich war. Als die Liebe von Graf Vamus zur Lehrerin entfachte und sie die Erste Liebesnacht miteinander verbrachten, wurde die damalige Frau Mairose schwanger. Sie war also schon schwanger, bevor sie der Graf zu seiner Gräfin machte. Nur so war es möglich, dass ein Vampirbaby geboren wurde. So etwas geschah ganz selten. Der Graf wusste das und war umso stolzer auf dieses Geschenk. Der Graf und die Gräfin waren in diesem Moment die glücklichsten Eltern auf der Welt – wäre da nicht Maximus gewesen.
Ich zuckte plötzlich zusammen und spürte, wie das Adrenalin wie ein wilder Fluss durch meinen Körper jagte. Der Himmel über mir hatte sich schlagartig verändert und sah zum Fürchten aus. Ich wusste nicht, dass der Himmel auf der Erde genauso aussah. Dunkle Wolken vereinten sich und krachten mit lautem Getöse aneinander. Funkelnde, blaue Blitze schossen jetzt wie Flammensäulen vom Himmel und erhellten ihn. Dazwischen eine blaue Nebelwand, die den Himmel in zwei Teile teilte. Unverhofft begann sich diese Wand jetzt zu materialisieren, bis sie sich schließlich auslöste. Beide Welten waren jetzt eins geworden. Der Herrscher und sein Gefolge, die mittlerweile mein Verschwinden bemerkt hatten und nach mir suchten, wurden von einem ohrenbetäubenden Geräusch überrascht, das wie ein Grollen von Raketenantrieben klang. Die Panzerpferde blieben vor lauter Angst abrupt stehen. Ihre Blicke wanderten zum Himmel. Neben den blauen Blitzen hatte sich ein weißes Gebilde formiert, das einer Windhose ähnelte. Staunend betrachtete auch ich das bizarre Kunstwerk, dass in diesem Universum gerade entstanden war. Wie ein bedrohliches Monster war es aus dem Nichts entstanden und bewegte sich jetzt in Richtung Wald.
Soll ich mich verstecken, ist das mein Zeitloch?
Doch es schien sich nicht für mich zu interessieren und kam stattdessen genau auf die Truppe zu. Die Panzerpferde fühlten die Bedrohung, fingen laut an zu wiehern und drehten sich nervös um die eigene Achse. Der Herrscher und die Kreaturen versuchten sie noch zu beruhigen, beschlossen dann besser zu fliehen und trieben sie mit kräftigen Tritten in die Flanken ihre Pferde an. Doch von einem Moment auf den anderen erstarrten diese und bewegten sich keinen Millimeter mehr von der Stelle. Immer heftiger versuchten die Kreaturen und der Herrscher jetzt die Panzerpferde anzutreiben, doch es war schon zu spät. Das bizarre Strudelloch erreichte bedrohend die Gruppe. Es umhüllte jetzt knisternd Pferd und Reiter und beförderte sie immer höher in die Luft. Ich fühlte die Macht des Himmels, mit jeder Faser meines Körpers, auf meiner Seite und beobachtete fasziniert die fliegenden Körper in der Luft von meinem Versteck heraus. Es war, als würde der Wind mit ihnen spielen und ihnen eine Lektion erteilen. Wie in einem Karussell bewegten sie sich manchmal schneller und dann wieder langsamer. Nach einiger Zeit, als der Strudel wohl des Spielens müde war, ließ er die benommenen Körper einfach wie Regentropfen zurück auf die Erde fallen. Dort blieben sie regungslos auf dem Boden liegen.
Ich stöhnte leise auf, denn jetzt war ich eine Weile sicher vor dem bösen Herrscher und seinem Gefolge. Ich blickte erneut auf. Der Strudel war genauso schnell verschwunden, wie er gekommen war. Wo bleibt nur der blaue Tunnel und das Zeitfenster? Wo ist das blaue Licht, durch das ich durchgehen muss, das Tor zu meiner Familie?
Das Vampirbaby wurde im Vamuraischloss geboren und just in dem Moment, als es den ersten Schrei tat, öffnete sich das Zeitfenster und der blaue Tunnel erschien am Nachthimmel.
Mit zitternden Knien, hatte ich es mir auf dem Waldboden bequem gemacht. Das Ganze war nicht spurlos an mir vorbeigegangen. Der Herrscher und seine Kreaturen lagen immer noch bewusstlos auf dem Waldboden. Ob sie noch leben würden? Von den Geschehnissen überwältigt, legte ich mich auf den Rücken und blickte sehnsüchtig auf den dunklen Nachthimmel, der sich beruhigt hatte und jetzt von Millionen Sternen erstrahlt wurde. Ein atemberaubender Blick auf die funkelnden Sterne, der mich kurz vergessen ließ und beruhigend auf mich wirkte. Mein Blick wanderte hoffnungsvoll in ihm umher, doch außer den Sternen, war nichts zu sehen. Meine Hoffnung schwand. Ich wollte gerade meine Augen schließen, als ich von einem gleißenden blauen Licht am Himmel geblendet wurde. Erst noch ein kleiner Punkt, dann ein immer größer werdendes Loch, aus dem sich ein blauer Strudel bildete. Er kam immer näher auf die Lichtung zu. Als schien er noch zu überlegen, blieb er in kurzer Entfernung zu mir stehen, als ob er auf irgendetwas warten würde. Ich zögerte noch kurz, dann rannte ich, so schnell ich konnte, in seine Richtung. Das blaue Licht wirkte auf mich magisch und je näher ich kam, umso mehr fühlte es sich an, als ob ich von einem Staubsauger aufgesogen würde. Alles fühlte sich so leicht an. Ich taumelte, weil etwas an meinen Körper zog, dann verlor ich das Bewusstsein. Im Unterbewusstsein spürte ich ein unbeschreibliches Glücksgefühl, ich fühlte mich geborgen wie noch nie. Wie schwerelos schien sich mein Körper zu bewegen. Dieses angenehme Gefühl wurde kurze Zeit später allerdings wieder jäh unterbrochen, als ich in hohem Bogen hinauskatapultiert wurde und etwas unsanft vor unserem Kamin landete, in dem ein kleines Feuer loderte. Kurzzeitig spannte sich mein ganzer Körper an und verkrampfte sich. Doch dann empfing mich wohlige Wärme, die nach dem kalten Wald genoss. Ein leises Lächeln um spiegelte mein Gesicht. Ich war noch nicht ganz bei Bewusstsein und es war, als würde ich mich immer noch in meinem Traum aufhalten. Nach einiger Zeit wachte ich noch etwas benommen ganz auf, rieb mir die Augen und erkannte das Kaminzimmer im Schloss meines Vaters. Erneut zog ein Lächeln über mein Gesicht, bis es erstrahlte. Ich war angekommen und der Zwischenwelt und dem bösen Herrscher entkommen. Doch ich war ganz alleine im Kaminzimmer, es war keiner außer mir da.
»Papa, Mama, wo seid ihr denn – und wo ist das Baby«, rief ich laut und dann noch etwas lauter und erleichtert: »Mama, Papa ich bin wieder da. Das Baby hat mich gerettet!«
Doch niemand antwortete mir. Noch etwas wacklig auf den Füßen durchsuchte ich das Schloss. Nachdem ich nicht fündig wurde, ließ ich mich traurig und erschöpft auf der Couch im Kaminzimmer nieder und schlief sofort ein. Ich war wohl noch zu benommen gewesen, sonst hätte ich unten in der Gruft nach meiner Familie gesucht. Im dunklen Verlies hatte mich natürlich keiner hören können.
Dort unten hielt eine glückliche Mutter ihr Vampirbaby im Arm und der Graf umarmte seine Frau. Für eine kurze Zeit genossen die drei das traute Zusammensein. Für sie stand die Zeit eine Weile still.
»Maximus, was ist jetzt mit Maximus?«, stammelte die Gräfin wie aus heiterem Himmel und schaute ihren Mann fragend und vorwurfsvoll an.
Dieser zuckte merklich zusammen und bekam ein schlechtes Gewissen. Beinahe hätte er vor lauter Baby seinen Sohn Maximus vergessen.
»Maximus - das Zeitfenster«, murmelte er, »ich muss sofort in das Kaminzimmer und schauen, ob es Maximus geschafft hat. Kann ich dich, ich äh meine euch kurz alleine lassen?«
»Natürlich mein Liebling«, meinte die Gräfin und strich ihrem Mann sanft über die Wange, »such du nur Maximus, wir kommen eine Weile alleine zurecht.« Zärtlich strich sie über den Haarflaum ihres kleinen Mädchens, die zufrieden in ihrem Arm lag und an ihrem Daumen nuckelte. »Ich glaube, die junge Dame hat ohnehin Hunger«, lächelte sie verschmitzt und legte ihr Baby an ihrem Busen an und ließ es trinken.
»Ja und ich schau‘ mal ob unser Junge wieder da ist und ob sich das Buch verändert hat«, meinte er zu seiner Frau nachdenklich. »Hoffentlich hat er diesen Tunnel gefunden.«
»Ja, geh nur, schau nach unserem Jungen – es ist bestimmt alles gut gegangen«, seufzte die Gräfin ganz leise und müde, denn sie war immer noch von der Geburt geschwächt. »Bring mir nur endlich Maximus zurück!«
Graf Vamus lief sofort ins Kaminzimmer und fand seinen Sohn Maximus immer noch etwas benommen auf der Couch liegen.
»Da bist du ja«, seufzte er glücklich und rüttelte mich sanft wach, »geht es dir gut, mein Junge? Ich bin ja so froh, dass du dem Herrscher der Zwischenwelt entkommen bist.«
Noch etwas benommen spürte ich, wie er mich glücklich in die Arme nahm. »Du musst mir jetzt versprechen, dass du nie wieder in die Zwischenwelt gehst. Ich werde jetzt das Vamuraibuch schließen und das Buch wegsperren.«
»Nein Papa, das darfst du nicht«, schrie ich entsetzt und war mit einem Mal hellwach. Ich hielt meinen Vater krampfhaft fest, um ihn daran zu hindern. »Wenn du das tust, dann wird unsere Welt verloren sein!«
»Aber mein Junge, was redest du denn da für einen Unsinn, hast du dir den Kopf gestoßen?« Vater hielt mir seine Hand an die Stirn und schaute mich besorgt an. »Mein Junge, was hast du nur alles durchmachen müssen, irgendwie bist du größer und erwachsener geworden. Die Zwischenwelt hat dich wohl schneller reifen lassen.«
Ich schüttelte ungläubig den Kopf und versuchte meinen Vater zu verstehen. Ich war doch gar nicht lange weg gewesen. Was meinte er denn damit?
»Papa du musst mir glauben, der Herrscher der Zwischenwelt will unsere Welt erobern.«
Mein Vater zuckte bei diesem Namen merklich zusammen und wollte jetzt alles über die Zwischenwelt erfahren. Ich erzählte ihm alles, von den Geköpften auf den Feldern, vom Herrscher und seiner Frau und natürlich auch von Chania. Als ich von Chania und ihrer Wiese erzählte, wurde ich melancholisch und träumte mit offenen Augen. Mein Vater bemerkte es nicht, denn er war viel zu sehr mit seinen eigenen Gedanken und seinen eigenen Erfahrungen in der Zwischenwelt beschäftigt. Vergangenes holte ihn ein. Als ich dann noch vom Kopf erzählte und meinte, es wäre der Kopf eines Vampirs, der mir geholfen hatte, zuckte Graf Vamus innerlich zusammen. Er wurde immer fahler im Gesicht. Vergessene Erinnerungen stiegen in ihm hoch, doch die Bilder waren verschwommen. Grausame Erinnerungen an die Zwischenwelt.
Das Gesicht meines Vaters erhellte sich kurzzeitig, doch dieser Geistesblitz war nur von kurzer Dauer. »Nein, das kann nicht sein«, murmelte er leise vor sich hin. Es war, als würde sein Unterbewusstsein die Gedanken nicht zulassen. Ich war mit meiner Geschichte am Ende und schaute meinen Vater jetzt traurig an. »Jetzt weißt du alles und verstehst bestimmt, dass ich irgendwann in diese Zwischenwelt zurückmuss. Das wird noch etwas dauern, aber wenn du mir dabei hilfst, werden wir genügend Zeit haben, einen Plan auszuhecken. Du wirst mir doch helfen Papa?«
Es war mehr eine flehende Forderung, als eine Frage. Aus mir sprach nicht mehr der kleine Vampir, der ich vor meinem Ausflug in die Zwischenwelt gewesen war. Ich fühlte mich jetzt reifer und entschlossener. Die Zwischenwelt hatte mich zu einem jungen Mann heranwachsen lassen. »Natürlich helfe ich dir, mein Junge. Wir werden gemeinsam unsere Welt vor diesem schlimmen Herrscher retten. Aber jetzt bist du erst einmal zu Hause und kannst neue Kräfte sammeln. Komm lass uns zur Mama und dem Baby gehen, du hast eine ganz süße Schwester bekommen. Sie heißt Vanillia!«
Mein Gesicht strahlte. Hand in Hand gingen wir zur Gräfin in das Verlies. Meine Mutter, die Gräfin Vamus war außer sich. Sie erhob sich sogleich aus dem Bett und umarmte mich heftig. »Mein Junge, schön dass du wieder da bist. Ich hatte schon gedacht, wir hätten dich für immer verloren! Ich habe mir solche Sorgen gemacht«, schluchzte sie, »du musst mir versprechen, niemals mehr in diese Zwischenwelt zu gehen!« Sie umklammerte mich dabei immer fester und drückte mir fast die Luft ab. Es war, als wollte sie mich nie mehr loslassen. Ich nickte nur beklommen, hätte ich ihr doch jetzt unmöglich von den Grausamkeiten, die ich erlebt hatte, erzählen können, geschweige denn von den Plänen des Herrschers. Sie war dafür noch viel zu schwach. Der Zeitpunkt würde schon irgendwann kommen, dann würde ich sie einweihen.
Mama verließen ihre Kräfte und sie ließ mich erschöpft los. Müde sank sie zurück in ihr Kissen und betrachtete glücklich ihre kleine Familie. Mein Blick wanderte zur Wiege, in der meine kleine Schwester Vanillia erschöpft und friedlich schlummerte.
»Du bist aber süß – so süß wie dein Name«, meinte ich zu ihr und mit einem Lächeln im Gesicht, »du hast mich gerettet, das werde ich dir nie vergessen.«
Ich nahm das schlafende Baby hoch und gab ihm einen Kuss auf die Stirn. Dann drückte ich es sanft an mich und sog ihren Duft ein. Sie roch einfach köstlich.
Die Kleine machte die Äuglein auf, lächelte mich kurz an und schlief dann wieder erschöpft ein.
Ich strahlte vor Glück. »Jetzt sind wir endlich eine richtige Familie«, murmelte ich erschöpft, »ich muss jetzt erst einmal schlafen, die Tage waren so anstrengend.«
Ich schlief zwei Tage und zwei Nächte durch. Als ich mich wieder fitter fühlte, war mein erster Gang ins Kaminzimmer um nachzuschauen, ob das Buch noch aufgeschlagen war. Das war es noch und es kam immer noch sanfter blauer Rauch heraus.
»Es wird noch einige Zeit dauern. Ich bin noch nicht bereit, mich mit dem Kopf erneut in Verbindung zu setzten«, sprach ich ins Vamuraibuch, während ich über die Seiten strich, »ich muss erst wieder einen klaren Kopf bekommen und mich um meine Familie kümmern.«
Ich brauchte wirklich etwas Zeit, um das was passiert war, zu verkraften. Zeit, um mir eine Strategie zu überlegen, wie ich den Herrscher der Zwischenwelt daran hindern konnte, meine Welt zu zerstören. Nur als ich kurz an Chania dachte, bekam ich einen Stich im Herzen, der jedoch wieder verflog, als ich an meine kleine süße Schwester Vanillia dachte. Ich war so dankbar, eine Schwester bekommen zu haben. Ohne mich noch einmal umzudrehen, verließ ich das Kaminzimmer.
Es vergingen mehrere Jahre, in denen ich zusammen mit meiner Schwester Vanillia, viele spannende Abenteuer erlebte und ihr als großer Bruder immer hilfreich zur Seite stand. Dass wir eine besondere Familie waren, die letzte noch existierende Vampirfamilie, wurde mir erst wieder klar, als ich eines Tages alleine im Kaminzimmer war. Ich betrachtete nachdenklich das Vamuraibuch aus dem immer noch der blaue Rauch herauskam. Wir lebten zwar abgeschieden am Rande des Dorfes, aber durch die Medien, insbesondere das Fernsehen und Internet, bekamen auch wir mit, was so alles in der Welt passierte. Und in den letzten Jahren war einiges passiert. Kriege hatte es schon immer gegeben, aber das was sich mittlerweile zusammenbraute, erschreckte mich. Jeden Tag hörte man in den Nachrichten von irgendwelchen Terroranschlägen, es gab viele Tote in der Welt. Selbstmordattentäter sprengten sich vor lauter Wahnsinn und Fanatismus selbst in die Luft und rissen dabei Unschuldige mit in den Tod. Insbesondere im Nahen Osten kämpfte mittlerweile jeder gegen jeden. Juden gegen Moslems, Moslems gegen Juden und Christen – alle irgendwie gegen die westliche Welt, deren Länder als die reichen Ausbeuter bezeichnet wurden. Doch auch in Afrika brodelte es. Es gab einen Bürgerkrieg nach dem anderen. Immer ging es entweder um Religionen, Bodenschätze, oder einfach nur um Macht und Geld. Es kehrte keine Ruhe ein.
Steht die Übernahme des Herrschers der Zwischenwelt bald bevor? Hat er was damit zu tun?
Irgendwie hatte ich bei diesem Gedanken ein mulmiges Gefühl. Ich hätte am liebsten das Vamuraibuch dazu gefragt. Doch dazu fehlte mir der Mut. Das Erlebnis in der Zwischenwelt saß noch zu tief in mir drin. Andererseits war ich immer noch sehr neugierig. Nachdenklich betrachtete ich das Vamuraibuch. Es hatte wohl meine Gedanken gehört und fing an stärker zu qualmen. Ein beunruhigender Schauer lief mir über den Rücken und ich wollte schon das Kaminzimmer verlassen, als eine tiefe sanfte Stimme sprach: »Was bedrückt dich junger Vampir?«
Mir stockte der Atem. »Redest du mit mir? Muss ich jetzt schon die Welt retten?«
»Dafür ist noch etwas Zeit«, sprach das Buch, »aber ich werde dir all deine Fragen erklären, wenn du es wissen willst!«
»Ja, das möchte ich«. Jetzt war ich ganz aufgeregt. »Was passiert in der Welt? Das Böse wird immer stärker. Die Menschen bekriegen sich mehr und mehr. Ich habe Angst, dass sich die Welt selber zerstört vor lauter Hass, Neid und Missgunst! Hat der Herrscher der Zwischenwelt damit etwas zu tun? Ich habe so ein komisches Gefühl dabei. Die Welt gerät aus den Fugen.«
Aus mir sprudelte es nur so heraus. Der blaue Rauch aus dem Buch wurde immer stärker. Ich hatte Angst schon wieder vom Vamuraibuch aufgesogen zu werden und in der Zwischenwelt zu landen. Deshalb hielt ich mich krampfhaft an der Couch fest. Doch ich konnte es nicht lassen, ich musste meine Sorgen mit dem Vamuraibuch teilen. Irgendetwas lenkte meine Gedanken und Worte als ich weitersprach: »Hilf mir Vamuraibuch, bitte sprich mit mir!«
Der blaue Rauch wurde heftiger, als das Buch mit einer tiefen dunklen Stimme erneut zu sprechen begann: »Der Herrscher der Zwischenwelt, er bereitet seinen Angriff vor. Er hat schon aus der Ferne großen Einfluss auf die Menschen gewonnen und keiner kann ihn aufhalten. Er bringt Menschen dazu Dinge zu tun, die es früher nicht gab – sie töten Menschen und sprengen sich sogar selbst in die Luft. Selbstmörder gehören zu den Lieblingssoldaten des Herrschers. Er hilft ihnen einen fanatischen Glauben anzunehmen und andere Meinungen zu ignorieren. Jeder dieser Attentäter landet beim Herrscher der Zwischenwelt. Aber auch in der westlichen Welt gibt es immer mehr Gewalt, Neid und Missgunst. Werte, die früher mal den Zusammenhalt der Menschen bedeuteten, verlieren immer mehr an Wert. Die Menschen werden egoistischer und bekämpfen sich mittlerweile gegenseitig. Sie missbrauchen ihre eigenen Kinder und laden sich Nacktbilder von Kindern und Jugendlichen auf ihren Computer. Diese Menschen kommen alle in die Zwischenwelt und ihre Köpfe wandern auf die Felder. Es werden immer mehr. Je böser und schlechter die Welt wird, umso mehr Köpfe landen auf den Feldern des Herrschers. Umso schneller wird es dem Herrscher gelingen die Welt zu erobern. Dann wird nur noch das Böse regieren. Auch die Umwelt liegt in den Händen des Herrschers der Zwischenwelt. Er bringt die Menschen dazu, ihre Welt selbst zu zerstören. Die Zwischenwelt benötigt keine intakte Umwelt um zu existieren. Das ist alles das Werk des bösen Herrschers. Nicht einmal der Himmel und die Hölle können und dürfen darauf Einfluss nehmen. Der Herrscher kennt keine Regeln oder Grenzen. Er nutzt die Geld- und Machtgier der Menschen für seine Machenschaften. Das Einzige was ihm jetzt noch fehlt ist der direkte Zugang zur Welt. Und da kann ihm nur eine helfen – seine unschuldige Tochter Chania. Du musst versuchen sie zu überzeugen - nur mit ihr gemeinsam kannst du die Welt retten!«
Ich hatte mit offenem Mund den Worten des Vamuraibuches zugehört und war noch weißer im Gesicht geworden. Meine Vorahnung war also richtig gewesen. Dieser miese Herrscher hatte bei all den Gräueltaten in der Welt seine Finger im Spiel. Er wollte die Welt ihm Untertan machen - sie vernichten und beherrschen. Und dann auch noch Chania als sein Werkzeug benutzen. Dieses unschuldige Wesen war doch ihrem Vater bedingungslos ausgeliefert und würde deshalb alles für ihn tun. Ich musste sofort mit Papa darüber reden, verließ das Kaminzimmer und ging in die Gruft, weil ich hoffte, dort meinen Papa zu finden. Er hatte immer noch die Angewohnheit sich manchmal in seinem Sarg auszuruhen und genoss dort die Ruhe der Gruft.
»Papa, schläfst du schon richtig?«, dabei rüttelte ich meinen Vater ganz sanft. »Papa du musst aufwachen, wir müssen die Welt retten!«
Ich war jetzt richtig nervös und aufgeregt.
»Was ist denn jetzt schon wieder los, brennt das Schloss ab, oder warum weckst du mich in meinem Sarg auf?«
»Pa, der Kopf hat durch das Vamuraibuch zu mir gesprochen. Es wird bald soweit sein. Der Herrscher plant seinen Angriff auf die Welt. Wir müssen ihn aufhalten!«
»Was redest du denn für wirres Zeug. Was sollen wir tun? Wir können doch nichts dagegen tun und wissen auch nicht was wir dagegen tun können«, meinte mein Vater gähnend und kratzte sich am Kopf. Er war noch müde und etwas verwirrt und so gar nicht in der Stimmung über die Rettung der Welt zu reden.
»Ich weiß auch nur, dass wir dazu nochmals in die Zwischenwelt gehen müssen. Dort werden wir erfahren was zu tun ist. Wir müssen zu seiner Tochter Chania gehen, um das Schlimmste zu verhindern.«
Der Graf gähnte erneut auf, dann zuckte er plötzlich zusammen. »Wir müssen aber zuerst zu deiner Mutter gehen! Das wird erst einmal eine schwierige Aufgabe werden.«
Von einer Minute zur anderen war er hellwach.
Wie soll ich das nur wieder meiner Frau erklären?
„Komm mit Maximus, wir müssen mit Mama reden.“
Ich nickte beklommen.
Notgedrungen begaben wir uns zur Gräfin und erzählten ihr von unserem Vorhaben. Bisher hatte sie noch nichts von den Plänen gewusst, dass wir beide die Welt retten wollten. Seit Vanillias Geburt hatte sie zwischenzeitlich den Vorfall mit mir in der Zwischenwelt verdrängt. Sie hatte wohl gehofft, dass der Zeitpunkt niemals kommen würde, dass ich wieder diese Welt betreten musste. Und jetzt wollte auch noch Papa zusammen mit mir gehen.
Was ist, wenn wir es beide nicht mehr schaffen, wieder aus der Zwischenwelt rauszukommen? Mama wäre dann ganz alleine auf der Welt mit Vanillia.
Aber andererseits, wenn wir es nicht versuchten, dann würde der Herrscher die Welt erobern und alles wäre verloren. Eine Welt, die auch sie liebte und bereit war dafür zu kämpfen.
»Wie kann ich euch dabei helfen?«
Ihre Stimme klang etwas ängstlich und verzweifelt, aber dennoch entschlossen. Entschlossen all dem Bösen entgegenzuwirken um ihre Welt und ihre Lieben zu verteidigen. Die Löwin in ihr war erwacht. Papa zuckte mit den Achseln – er wirkte eher noch wie ein verschrecktes Löwenkind, dass nicht wusste, in welche Richtung es gehen sollte. Er zögerte noch kurz, doch dann sah seine Frau die Kraft und die Entschlossenheit in ihm empor steigen. Jetzt war in ihm der mächtige starke Löwe erwacht und entschlossen meinte er zu seiner Löwin: »Ich weiß es noch nicht genau, aber ich bin mir sicher, dass wir es schaffen werden. Maximus und ich wir werden das Böse aufhalten und besiegen! Du musst dir keine Sorgen machen. Der Herrscher kann uns Vampiren nichts anhaben, in der Zwischenwelt. Er sollte uns lieber fürchten, als sich mit uns anzulegen! Du kannst jederzeit durch das Vamuraibuch Kontakt zu uns aufnehmen. Du musst dich nur konzentrieren und mit dem Buch reden und Fragen stellen. Dann wird es dir die Antworten aufschreiben.« Papa, der gerade noch in Rage war, stockte kurz und meinte dann hoffnungsvoll: »Vielleicht kann uns ja auch das Buch mit seinen geheimen Kräften helfen.
Ich nickte zustimmend und mein Blick hellte sich auf.
Mama war jedoch etwas skeptischer und stellte mir eine Frage: »Wie wollt ihr denn wieder heimkommen? Wie soll das denn möglich sein?«
»Die Tochter des Herrschers wird uns helfen!«, erwiderte ich überzeugt mit fester Stimme. Ich war mir sicher, dass es einen Weg geben würde zurückzukommen und setzte deshalb noch ein Versprechen drauf. »Ich verspreche dir und Vanillia, dass wir wieder heil zurückkommen. Uns kann gar nichts passieren, wir sind doch beide Vampire! Ein Vampir lässt sich nicht so leicht unterkriegen!«
Meine Mutter schien überzeugt und nickte wohlwollend. Seufzend ließ sie uns schweren Herzens ziehen. Sie und Vanillia weinten zwar etwas als wir uns verabschiedeten und ins Kaminzimmer gingen, doch sie wussten auch, dass es keinen anderen Weg gab. Das Vamuraibuch erwartete uns schon und war bereits vollständig in blauen Rauch gehüllt. Mein Vater nahm meine Hand und gemeinsam tasteten wir uns vorsichtig an das Buch heran. Unsere Gedanken waren schon längst in der Zwischenwelt. Mein Vater war sehr angespannt und in einer seltsamen Stimmung. Eine Mischung aus Neugier, Abenteuerlust und ein klein wenig Angst. Letzteres wollte er mir natürlich nicht zeigen. Das Vamuraibuch reagierte prompt auf unsere Anwesenheit.
»Ich habe euch erwartet! Ich bin bereit euch in die Zwischenwelt zu bringen. Habt keine Angst«, sprach wieder diese eigenartige dunkle Stimme aus dem Vamuraibuch.
»Woher weiß das Vamuraibuch …?«, sagte ich mehr zu mir selber.
Vater zuckte mit den Schultern und wirkte eigentlich nicht überrascht. Das Vamuraibuch antwortete mit einem immer heftiger werdenden blauen Rauch und plötzlich entwickelte sich daraus ein sich immer schneller drehendes und immer größer werdendes Loch, eine Art Staubsaugerschlauch, das uns beide in sich hinein zog. Nacheinander wurden wir so vom blauen Wirbel erfasst.
‚Ich möchte nicht schon wieder bewusstlos werden. Dieser heftige Sog‘, waren meine letzten Gedanken, bevor mir die Sinne schwanden.
Diese Kälte – die Nässe – dieser Geruch, er kam mir irgendwie bekannt vor. Ich rieb mir die Augen und erblickte diese grässlichen Bäume. Dieses Mal war ich wohl direkt auf dem Rücken gelandet.
»Die Zwischenwelt«, murmelte ich, »ich bin wieder in der Zwischenwelt. Wo bist du Papa?«
»Maximus, bist du das?«, fragte Papa und tastete nach meiner Hand.
»Ja Papa, ich bin es. Wir haben es geschafft. Wir sind in der Zwischenwelt.«
»Das ist gut Maximus«, murmelte er erschöpft zurück.
Dieses Mal war es für mich erträglicher, denn ich war nicht allein und hatte meinen Papa an meiner Seite. Ich ergriff seine Hand fester, zog mich nahe an ihn heran und flüsterte ihm leise ins Ohr: »Papa, wir müssen jetzt sehr vorsichtig sein, dass uns der Herrscher und seine Kreaturen nicht sofort entdecken. Lass uns nicht den geraden Weg zum Schloss gehen, sondern außen um die Felder herum. Wahrscheinlich halten sich alle schon im Schloss auf und man könnte uns sehen.«
Mein Vater nickte, setzte sich hin und blickte sich um.
»Hoffentlich hat auch niemand das blaue Licht gesehen. Komm mein Junge, lass uns zum Schloss gehen.«
Er stand auf und reichte mir seine Hand. Gemeinsam schlichen wir uns vorsichtig aus dem Wald hinaus und kamen an das erste Feld. Die Köpfe in diesem Feld waren in einem erbärmlichen Zustand. Sie hatten schon grausam ausgesehen, als ich diese Welt vor einiger Zeit verlassen hatte. Aber jetzt sahen sie immer mehr dem Herrscher ähnlich. Die Köpfe waren voller Geschwüre, Furunkel und ekligen Eiterherden.
»Die sehen ja wirklich grausam aus, so hast du sie gar nicht beschrieben Maximus!«, meinte Papa angewidert und fixierte die Köpfe.
Ich zuckte mit den Achseln.
»Ich weiß auch nicht was passiert ist! So schlimm sahen sie das letzte Mal nicht aus!«, meinte ich entsetzt. Auch mir graute es. ‚Was ist denn hier passiert?‘
»Rettet uns! Wir verfallen langsam!«, schrie da einer der Köpfe, »irgendetwas passiert mit uns!«
Noch bevor ich etwas antworten konnte, hatte sich das Feld verändert und aus den Köpfen waren blutunterlaufene Köpfe geworden. Man sah, wie die Adern hervortraten und bei manchen schon geplatzt waren.
»Rettet uns! Wir zerplatzen langsam!«, schrie ein anderer Kopf.
»Irgendetwas passiert mit uns!«, schrie ein weiterer.
»Es scheinen merkwürdige Dinge hier in der Zwischenwelt zu passieren Papa! Die Zwischenwelt gerät aus den Fugen. Wir müssen uns beeilen!«
»Wahrscheinlich hast du recht mein Junge, ich glaube, wir sind bald im Schloss!«
Vater ging jetzt schnellen Schrittes voran. Wir kamen an das nächste Feld. In diesem waren die Köpfe fast durchsichtig geworden und schauten merkwürdig blutleer aus.
»Die schauen ja noch gruseliger aus! Wie wenn sie sich auflösen würden!«
Mir wurde es angst und bang.
»Rettet uns! Wir lösen uns langsam auf!«, schrie da wieder einer der Köpfe, »etwas Unheimliches passiert mit uns!«
»Los Maximus lauf los, es ist bald soweit, wir müssen uns beeilen!«
Wir nahmen die Füße in die Hand und rannten, so schnell wir konnten, als wäre der Teufel persönlich hinter uns her.
„Wir sind da“, keuchte mein Vater, als wir angekommen waren, „lass uns sofort in den Thronsaal gehen“. Er öffnete mit Kraft die schwere Eisentüre und ging schnurstracks in die richtige Richtung. Merkwürdigerweise wusste Papa noch genau, wie es zum Thronsaal ging, obwohl das schon sehr lange her war.
„Ich erkenne ihn wieder. Da vorne ist dieser Mistkerl!“, flüsterte mein Vater.
Dort stand wirklich der Herrscher und führte gerade mit seiner Tochter Chania ein ernsthaftes Gespräch. Ich seufzte leise. Aus dem kleinen Mädchen war ein junger Teenager geworden - ein hübsches Mädchen - ein richtiger Engel. Man hätte meinen können, dass ein netter Vater mit seiner Tochter sprach.
»Mein liebes Kind, du musst deinem dich liebenden Vater einen Gefallen tun.«, säuselte er.
»Was denn mein Vater, ich werde alles tun was du von mir verlangst.«
Chania himmelte ihren Vater an - sie liebte ihn bedingungslos. Fassungslos beobachteten wir die Szene. Das Mädchen war so unschuldig und sah immer nur das Gute in ihrem Vater. Dass sie das schlimmste Wesen im Universum vor sich hatte, war ihr in keinster Weise bewusst. Sie war ihm hörig und er konnte sie jederzeit um seinen kleinen Finger wickeln.
»Komm mit mein Liebling, wir müssen in die Gruft des Schlosses gehen und eine Geheimtüre öffnen.«
Chania schüttelte energisch ihren Kopf.
»Ich habe aber Angst davor in den Keller zu gehen und dann noch in eine Gruft, was ist das denn?«
»Das ist nichts Schlimmes, es wird uns das Tor zu einer schöneren Welt öffnen. Kannst du dich noch an den netten kleinen Vampir erinnern? Er kommt aus dieser schönen Welt. Du kannst ihn dort sicherlich besuchen.«
Die Miene von Chania erhellte sich kurzzeitig und wurde von einem Lächeln durchzogen.
‚Er meint wohl mich damit‘, dachte ich und lächelte. ‚Er hat wohl damals gemerkt, dass mich Chania entzückt angesehen hatte. Die Sympathie war auf beiden Seiten gewesen, oder war es gar Zuneigung?‘
»Sag mal träumst du mit offenen Augen, du kleiner Weltretter?«, zischelte Papa mir ins Ohr, »los, wir müssen den beiden folgen und sehen was sie vorhaben.«
Chania und ihr Vater wollten schon losgehen, doch diese fühlte sich immer noch unbehaglich bei dem Gedanken an die Gruft - sie war noch nicht bereit dazu.
»Papa, hat das nicht bis morgen Zeit?«, stammelte sie, »ich bin schon so müde und es ist schon so spät. Ich muss mich erst einmal ausschlafen, bevor ich in diese Gruft gehen kann!« Sie rieb sich die Augen und gähnte.
Der Herrscher setzte kurzzeitig eine finstere Miene auf, doch dann lächelte er Chania wieder an. Er wusste, dass dieser Schritt von seiner Tochter ohne Zwang geschehen musste und lies es deshalb geschehen.
»Du hast Recht meine Kleine, morgen ist auch noch ein Tag. Wir werden morgen nach dem Frühstück in die Gruft gehen und deine Mutter mitnehmen.«
Ein kluger Schachzug des Herrschers, denn er wusste, dass Chania sich wohler fühlen würde, wenn ihre Mutter auch dabei war. Mit diesen Worten verließen beide den Thronsaal und begaben sich in ihre Gemächer. Ich stöhnte erleichtert auf.
»Wir haben also noch etwas Zeit. Lass uns in den Saal der Köpfe gehen und unseren Kopf suchen, vielleicht kann er uns ja helfen.«
»Ja, das ist eine gute Idee. Vielleicht können wir ja das Verlies, mithilfe des Kopfes, vorher finden und erkunden. Vielleicht finden wir so heraus, was es mit diesem Verlies auf sich hat und was der Herrscher dort mit seiner Tochter will.«
Leise schlichen wir aus dem Thronsaal und begaben uns in den Saal der Geköpften. Dieser war mittlerweile fast leer geworden. Wo sind nur all die Köpfe ?
Normalerweise füllte sich der Raum immer wieder, wenn ein Kopf auf das Feld gebracht wurde. Ich suchte das Versteck nach dem Kopf ab, fand ihn aber nicht.
»Kopf wo bist du?«
Ich schaute mich verzweifelt um. Alle restlichen Köpfe schienen zu schlafen. Da bemerkte ich in der letzten Reihe meinen Kopf. Er wirkte etwas geschwächt.
»Hallo Maximus, hier bin ich. Tut mir leid, aber ich bin etwas schwach, da es mich ungeheure Anstrengung gekostet hat, euch beide in die Zwischenwelt eindringen zu lassen. Darum konnte ich seitdem auch noch keinen Kontakt mit euch aufnehmen. Was habt ihr denn bisher alles gesehen und herausgefunden?«
„Das ist dein Kopf?“
Ich nickte.
Papa rieb ich die Augen und schüttelte ungläubig seinen Kopf. Wir gingen näher an den Kopf ran und plötzlich erstarrte mein Vater. Die Kinnlade fiel ihm beim Anblick des Kopfes hinunter.
»Das gibt’s doch gar nicht! Du bist es wirklich, Papa!«, stammelte er.
Dabei liefen ihm Tränen über das Gesicht. Zärtlich nahm er den Kopf in die Hände.
»Papa!«
»Ich, äh ich ahnte es«, stammelte dieser verlegen, »die ganze Zeit hoffte ich, dass Maximus dein Sohn wäre. Ich bin damals nicht zu Staub verfallen. Ich lebe seitdem als geköpfter in dieser Welt. Gefangen für immer und ewig.«
Er erzählte uns, was seitdem alles in dieser Zwischenwelt passiert war. Papa und ich berichteten ihm abwechselnd von den Feldern mit den grausamen Köpfen und was wir im Thronsaal mitbekommen hatten. Der Kopf nickte.
»Es ist höchste Zeit, dass wir etwas unternehmen. Der Herrscher ist kurz davor, in die Welt einzudringen. Er hat es irgendwie geschafft einen Teil der Menschen so zu beeinflussen, dass sie jetzt schon seine Diener sind. Diese Menschen haben keine Werte mehr, sie bringen sich gegenseitig um. Aggressionen, Missgunst und Neid beherrschen sie. Sie alle sind das Werkzeug eines Herrschers, der schlimmer als der Teufel ist. Nicht einmal Luzifer hat die Möglichkeit einzugreifen, da der Weg zur Unterwelt verbarrikadiert wurde. Nur die Tochter des Herrschers könnte jetzt diesen Zugang wieder freilegen. Dann könnte der Teufel einschreiten und den Herrscher besiegen. Er ist der einzige, der diese Macht hat und den Zugang von der Unterwelt zur Zwischenwelt hat. Nicht einmal Gott im Himmel kann in der Zwischenwelt eingreifen. Wer weiß, ob der liebe Gott die Welt vor dem Herrscher retten könnte.«
Der Kopf wirkte auf einmal sehr nachdenklich und auch uns wurde das alles zu viel. Wir mussten das Ganze erst über Nacht verarbeiten. Am nächsten Morgen fand ich als erster wieder die Worte.
»Los aufstehen, wir müssen jetzt sofort zu Chania und sie überzeugen, ihren Vater aufzuhalten! Vielleicht kann ich sie überzeugen.«
Mein Vater grinste mich noch etwas verschlafen an.
»So, so, Chania heißt also dieses zauberhafte Wesen«, schmunzelte er, »du scheinst sie ja schon etwas besser kennengelernt zu haben.«
»Ähm, ich konnte vor meiner Flucht mit ihr auf der schönen Wiese sprechen. Sie ist wirklich ganz nett.«
Papa und Opa grinsten jetzt bis über beide Ohren.
Wie peinlich. Wenn Vampire erröten könnten, wäre mir das jetzt passiert. Die glauben doch nicht etwa …?
Verlegen senkte ich den Kopf. Ohne weiter darauf einzugehen, nahm Papa Opa in die Hand und wir begaben uns erneut in den Thronsaal. Der Herrscher versuchte gerade Chania zu überzeugen.
»Chania, jetzt sei nicht so störrisch. Es ist wirklich sehr wichtig, dass du mit mir in die Gruft gehst, es hängt viel davon ab!«
»Ich habe so fürchterliche Angst Papa, ich kann nicht in diese Gruft hinunter gehen. Es soll dort Schlangen und alle möglichen Krabbeltieren geben!«
Chania fing an zu zittern. Sie tat mir richtig leid.
»Jetzt stell dich nicht so an Chania!”, mischte sich jetzt die Frau des Herrschers ein. Als sie den erschreckten Blick ihrer Tochter sah, fuhr in einem süßlichen Ton fort.
»Mein liebes Kind ich verspreche dir, dass dir nichts passieren wird!« Dabei nahm sie Chania in den Arm.
»Na schön ich gehe mit, wenn ihr meint!« meinte Chania noch etwas bedrückt, »ich werde euch ja helfen!«
Der Herrscher strahlte seine Frau mit einem siegessicheren Lächeln an.
Meine Chania wird mir helfen, mein Ziel zu verfolgen.
»Oh nein«, flüsterte der Kopf uns zu, »jetzt wird das Böse seinen Lauf nehmen. Wir müssen ihnen in die Gruft folgen. Vielleicht können wir ja noch schlimmeres verhindern. Los schnell, bevor wir sie dort unten in den verwinkelten Gängen verlieren!«
Vorsichtig schlichen wir hinter dem Herrscher, seiner Frau und Chania her. Es war gar nicht so leicht ihnen zu folgen, um in diese Gruft zu gelangen. Wir mussten erst durch mehrere Gänge und Räume gehen um an unser Ziel zu gelangen. Mir war so, als würde sich alles hier genauso verändern, wie draußen die Felder. Wir hatten Mühe nicht entdeckt zu werden, denn einerseits mussten wir den anderen unbemerkt folgen und andererseits hatten wir nicht viel Zeit, da sich die Gänge laufend veränderten und die Richtung wechselten. Irgendwie kamen wir trotzdem immer tiefer unter die Erde. Chania gefiel das Ganze nicht und sie begann zu torkeln. Sie fühlte sich schwach und ihr war schwindelig. Die Gänge begannen sich vor ihr zu drehen.
»Wann sind wir denn endlich da? Ich kann nicht mehr!«, seufzte sie erschöpft, »ich kann wirklich nicht mehr.«
»Gleich ist es so weit, wir sind bald da!«, versuchte der Herrscher sie zu beruhigen, »siehst du das große Tor da vorne, da müssen wir hin.«
Er nahm Chania an der Hand und schnellen Schrittes lief er mit ihr zu einem großen Tor, das mit merkwürdigen Beschlägen bestückt war. Im unteren Teil zeigten sie grausame Kreaturen. Chania wich entsetzt zurück, denn diese Beschläge waren genau in ihrer Sichthöhe angebracht. Beinahe wäre sie ohnmächtig geworden.
»Da geh ich nicht hinein!«, sagte sie bestimmt und wirkte plötzlich wie ein trotziges Kind.
In Wahrheit machte sie sich vor lauter Angst fast in die Hose. Ihr Blick wanderte nach oben. Dort erblickte sie erneut Beschläge. Diesmal waren sie aus lauter Engeln, die elfenhaft und freundlich wirkten.
‚Warum besteht ein Tor aus Kreaturen und Engeln, hat das was mit Gut und Böse zu tun? Was hat dieses Tor damit zu tun?‘, überlegte Chania. Sie wurde immer unsicherer und ratloser und blickte ihre Eltern verzweifelt an.
Der Herrscher spürte wohl, dass er in diesem Fall mit Strenge oder Gewalt nicht weiterkommen würde. Vor allem musste Chania freiwillig in Gruft gehen, sonst würde sein schöner Plan zerplatzen. Wie konnte er sie nur davon überzeugen? Da fiel dem Herrscher etwas ein, etwas ganz gemeines. Er tat einfach so, als wäre er schwer krank und die Rettung würde für ihn hinter dem Tor liegen.
»Mein Kind«, sagte er leise und schwächlich, »du musst mir helfen. Ich bin schwer krank und hinter diesem Tor ist meine Rettung! Nur du kannst mich retten. Du alleine bist fähig dieses Tor zu öffnen!«
»Du bist krank Papa? Wie kommt das so plötzlich? Ich kann das Tor trotzdem nicht öffnen – ich schaffe das nicht alleine!«, erwiderte Chania völlig verzweifelt und blickte ihn unsicher an. Ich will dir ja helfen!
Da fiel der Herrscher plötzlich in sich zusammen. Seine Frau wollte ihn noch stützen, doch vergeblich. Er tat natürlich nur so, aber Chania glaubte, dass er zusammengebrochen und bewusstlos war. Die Mutter blickte hilfesuchend in Chanias Richtung.
»Nun mach schon mein Liebling. Du siehst doch, wie schlecht es deinem Vater geht.«
»Ich werde dir ja helfen«, schluchzte jetzt Chania, »was muss ich tun, um dieses Tor zu öffnen?«
Die Frau des Herrschers half ihrem Mann wieder auf die Beine. Schwer auf seine Frau stützend, erklärte er Chania den Mechanismus des Tores. Mit schwacher kaum hörbarer Stimme deutete er auf zwei der Beschläge.
»Hier die beiden Beschläge, die Schlange mit der Kreatur auf der einen Seite und die Taube mit dem Engel auf der anderen Seite. Du musst beide gleichzeitig drücken, dann wird das Tor aufgehen.«
Die Herrscherin nickte wohlwollend.
»Na gut, wenn es sein muss«, wisperte Chania schüchtern und trat zögernd näher an das Tor heran. Ihre rechte Hand berührte die Taube mit dem Engel. Angenehme Wärme durchströmte ihre Hand. Noch etwas zögernd, bewegte sie ihre linke Hand in Richtung der Schlange mit der Kreatur. Eisige Kälte empfing sie, als sie den linken Beschlag berührte. Am liebsten wieder die Hand zurückgezogen, doch die Beschläge ließen das nicht zu. Wie von unsichtbarer Hand gelenkt drückte sie gleichzeitig auf beide Beschläge. Diese gaben sofort nach und öffneten sich leicht. Chania sprang entsetzt einen Satz zurück, denn aus der Türe quoll ein merkwürdiger Rauch. Doch dieses Mal war er nicht blau, sondern bis zur Mitte hin blutrot und ab der Mitte schneeweiß. Bald konnte man die Hand vor den Augen nicht mehr sehen, geschweige denn das Tor. Schließlich war der ganze Raum vor dem Tor umhüllt von weiß-roten Rauch. Totenstille machte sich breit und wir alle hielten den Atem an. Man hätte eine Stecknadel fallen hören. Keiner wagte sich mehr zu bewegen, denn alle warteten gespannt ab, was als Nächstes passieren würde.
Auch mir wurde es ganz anders und ich klammerte mich an meinen Vater. Wir hatten uns in dem großen Raum hinter einem Mauervorsprung versteckt und pressten uns jetzt an die kalte Wand. Von dort aus konnten wir nur noch hören und nichts mehr sehen.
»Wer möchte in mein Verlies eindringen? Wer wagt es mich zu stören!«, sprach eine unheimliche Stimme hinter dem Tor. Chania zuckte zusammen.
»Du musst ihm sagen, wer du bist«, flüsterte der Herrscher in Richtung seiner Tochter.
»Ich, ich bin Chania und erbitte Einlass!«, wisperte sie,
denn vor Aufregung konnte sie kaum noch sprechen.
»Der Einlass wird dir gewährt mein Engel!«
Mit diesen Worten ging das Tor mit einem ohrenbetäubenden Geräusch auf und es kam nur noch weißer Rauch aus dem Raum heraus. Der Herrscher nahm Chania und seine Frau bei der Hand und verschwand durch das Tor.
»Schnell, wir müssen hinterher, bevor sich das Tor wieder schließt«, meinte der Kopf.
Doch dann sahen wir, wie der Herrscher zurückkam und eine Beschwörungsformel ausrief.
»Tora overta momentum!«
Gleichzeitig legte er ein Büschel Haare seiner Tochter, das er ihr in der Nacht abgeschnitten hatte, in das Türschloss. Das Tor blieb so geöffnet und konnte nicht geschlossen werden. Als auch der Herrscher in dem Raum verschwunden war, gingen wir vorsichtig durch das Tor. Wir befanden uns jetzt in einem Vorraum, der nur noch mit weißem Rauch gefüllt war. Dieser ging wie ein Kreisel nach vorne hin spitz zu und mündete wieder in einen kleinen Tunnel, der in weißem Licht erstrahlte.
Ich hatte gerade aus meinem Versteck gelugt und sah sie dort hinein verschwinden. Alles schien hier heller und freundlicher zu sein. Es war, als hätte man eine andere Welt betreten. Chania fühlte sich hier bedeutend wohler und ein zufriedenes Lächeln umhüllte ihr Gesicht. Mir hingegen gab der weiße Gang erneut Rätsel auf und am Ende führte er in einen großen Raum.
Ist dass das Tor zur Welt? Hat Chania es geöffnet? Ist der Herrscher seinem Ziel schon ein Stück näher gekommen? Ist das der Anfang oder das Ende der Welt?
»Wartet hier, ich muss alleine gehen«, forderte ich Vater und den Kopf auf, »ihr müsst hier warten.«
Ohne eine Antwort abzuwarten, schlich ich Chania und ihren Eltern allein hinterher. Diese ging jetzt beschwingt und fröhlich den Gang entlang und sang ein Lied. Es war, als wäre sie endlich angekommen. Doch wo war sie ankommen? Der Gang führte sie in einen schneeweißen hellen Raum. Aus diesem Raum gingen fünf Gänge weg und aus all diesen Gängen quoll sanftes blaues Licht hervor. Chania blieb der Mund offen stehen.
»Mein Liebling, jetzt musst du alleine weitergehen und dich für einen der Gänge entscheiden«, brachte der Herrscher nur noch mühevoll hervor.
Er schien eine Art Schwächeanfall zu haben. Auch seine Frau konnte sich nur noch mühsam auf den Beinen halten und hielt sich krampfhaft an ihrem Mann fest. Chania stiegen Tränen in die Augen. Es war, als wären ihre Eltern in kürzester Zeit um mehrere Jahre gealtert. Ihr sonst so starker Vater kam ihr in diesem Raum so klein und hilflos vor. Sie selbst fühlte eine merkwürdige Stärke in ihrem Inneren, dennoch hatte sie Angst, alleine weiter zu gehen und fing an zu jammern.
»Ich kann doch nicht alleine weitergehen, wohin denn und welchen Tunnel soll ich nehmen? Wohin führen die fünf Tunnel? Papa, Mama, helft mir doch! Könnt ihr nicht mitgehen?«
»Das geht nicht Chania. Du musst alleine gehen. Such dir den richtigen Weg aus! Nur durch dich können wir wieder gesund werden.« Mit diesen Worten sank der Herrscher plötzlich in sich zusammen und ebenso seine Frau. Irgendetwas hatte beide in ihren Bann gezogen und machte sie handlungsunfähig. Schwach sprach er die letzten Worte zu Chania: »Ohne dich sind wir verloren mein Kind. Du musst dich für einen der Gänge entscheiden. Du wirst in eine, dir fremde Welt gelangen. Aus dieser musst du mir die Feder eines Tieres des Landes mitbringen. Diese musst du dann, wenn du zurückkommst, in diese Kugel stecken. Ganz oben ist ein kleiner Spalt, in der du sie dann stecken musst. Wir können dich nicht weiter begleiten.«
Der Herrscher wirkte plötzlich alt und zerbrechlich. »Geh nun mein Kind und komm bald zurück, dreh dich nicht nochmal um!« Dann fielen beide in einen seltsamen Schlaf und Chania war alleine. Sie seufzte und betrachtete voller Liebe und Herzschmerz ihre beiden Eltern, doch es half nichts, sie musste ihren Weg gehen. Schweren Herzens wählte Chania jetzt den rechten Gang. Aus diesem kam das schwächste blaue Licht und so entschied sie sich intuitiv für diesen Gang.
Ich erreichte gerade den weißen Raum und wollte sie noch zurückhalten.
»Nein Chania!«, rief ich ihr noch nach, doch es war zu spät. Ich sah gerade noch, wie Chania im rechten Tunnel verschwand und von einem blauen Licht aufgesogen wurde.
Mein Blick wanderten zum Herrscher und seiner Frau. Haben sie mich bemerkt?
Doch beide befanden sich scheinbar in einem Trance ähnlichen Zustand und bekamen nichts mehr mit. Sie lagen bewusstlos mit ausgestreckten Gliedern, wie tot, auf dem Boden. Plötzlich fiel es mir wie Schuppen vor die Augen, Vater und der Kopf durften diesen Raum auch nicht betreten, es würde ihnen genauso ergehen. Es war wie mit der Wiese in der Zwischenwelt, nur reine Seelen konnten hier sein, alle anderen würden von ihm geschwächt werden. So musste es sein und plötzlich fühlte ich, dass ich den Raum ohne Probleme betreten könne und Chania folgen konnte. Vorsichtig überschritt ich die Schwelle in den weißen Raum und blieb kurz darauf stehen.
Vater und Opa hatten nicht auf mich gehört und waren dicht hinter mir. Ich drehte mich um: »Papa, Opa ihr beide müsst draußen bleiben, nur reine Seelen dürfen diesen Raum betreten. Wenn ihr versucht diesen Raum zu betreten, dann werdet ihr genauso krank werden, wie der Herrscher und seine Frau. Ich werde jetzt Chania durch den rechten Tunnel folgen und versuchen schlimmeres zu verhindern.«
»Na, wenn du meinst Maximus«, sagte mein Vater schweren Herzens, »wir werden hier die Stellung halten. Hier nimm noch eine Packung Spezialcreme mit, vielleicht landest du ja in einer fremden Welt, wo du sie brauchen kannst.«
Er wollte mir gerade die Creme reichen, als seine Hand plötzlich zurückzuckte, als er die Schwelle des Raumes berührte. Es war, als hätte sich eine unsichtbare Wand aufgetan, die ihn nicht durchlassen wollte.
»Danke Pa, aber ich brauche diese Creme schon lange nicht mehr, sie ist mittlerweile eins geworden mit meinem Körper. Ich muss jetzt los, wir werden uns bestimmt wieder sehen. Ich werde bald wieder da sein!«
Meine Worte hallten merkwürdig durch den Raum. Graf Vamus und der Kopf sahen sich verwundert an. Eigentlich war ich nur ein paar Meter von ihnen entfernt, aber es klang so, als ob ich meilenweit von ihnen weg wäre. Ich ging unbeirrt weiter in den Raum, vorbei am Herrscher und seiner Frau. Dabei warf ich einen letzten Blick auf die beiden und wunderte mich noch, dass der Herrscher eine Kristallkugel in der Hand hielt. Ich konnte mit dieser Kristallkugel nichts anfangen, denn ich hatte das Gespräch zwischen dem Herrscher und seiner Tochter leider nicht mehr mitbekommen. Ich ahnte nicht, was auf mich zukommen würde. Ich wusste nur, dass ich Chania folgen musste. Wohin sie auch ging und was für Abenteuer auf mich warten würden.
»Chania, wo bist du nur?«, rief ich verzweifelt in Richtung des Tunnels, doch Chania war schon zu weit vorgedrungen und hörte mich nicht mehr. Der blaue Tunnel brachte sie nach Australien, dem kleinsten Kontinent auf der Welt.
Zögernd betrat ich den Tunnel und wurde sogleich von einem blauen Strudel erfasst. Ich wirbelte eine Weile wie ein Staubkörnchen in einem Staubsauger umher. Dann war alles schwarz um mich herum und ich wurde bewusstlos. Das Licht wollte mich wohl noch eine Weile in diesem Tunnel festhalten.
Chania erwachte. Ihr ganzer Körper fühlte sich taub an. Sie lag mit dem Gesicht im Sand und spürte einen salzigen Geschmack auf ihren Lippen.
‚Bin ich in einer Wüste - einer Steppe? Puh, der Sand ist aber heiß. Wo bin ich denn nur gelandet?‘ , überlegte sie.
Sie drehte sich etwas mehr zur Seite und blinzelte kurz. Ein grelles Licht blendete sie und brannte heiß herab. Schweiß bildete sich auf ihrer Stirn. So etwas kannte sie nicht. Das hatte es in der Welt, aus der sie kam nicht gegeben. Doch es machte ihr nichts aus, sie drehte sich ganz um und genoss die warmen Sonnenstrahlen auf ihrer Haut. Noch waren ihre Augen geschlossen und sie rieb sich den Sand aus den Augen. Vorsichtig blinzelte sie zuerst mit einem Auge und dann mit dem anderen. Das Licht war einfach zu hell für sie, deshalb hielt sie vorsichtig die Hände vor das Gesicht. Als sich ihre Augen etwas beruhigt hatten, spreizte sie die Finger und erblickte einen wunderschönen blauen Himmel. In ihrer Welt war dieser immer grau und düster gewesen. Wärme breitete sich in ihrem Herzen aus, ein wundervolles Glücksgefühl durch rieselte ihren ganzen Körper. Sie fühlte sich wie im Paradies und versuchte ihre Gedanken zu ordnen.
Was hat Vater gleich wieder gesagt? Ich soll ihm die Feder eines Tieres aus diesem Land mitbringen.
Sie richtete sie sich auf und betrachtete die wunderschöne Gegend, in der sie sich befand.
»Was denn für eine Feder?«, murmelte sie und sah sich fragend um. Sie konnte sich keinen Reim darauf machen, was eine Feder überhaupt war. Sie stand auf und betrachtete die Gegend um sich herum etwas detaillierter. Das Glücksgefühl in ihrem Herzen wurde noch intensiver und in der Nähe hörte sie ein Rauschen. Es klang ähnlich wie das Rauschen von Wasser, war aber ein für sie unbekanntes Geräusch und unterschied sich gewaltig vom kleinen Wellenrauschen ihres Tümpels, wenn Wind aufkam.
‚Das muss ich unbedingt sehen!‘, dachte sich Chania und machte sich auf den Weg in Richtung des Rauschens. Dann sah sie es, blau, unendliches blaues Wasser glitzerte vor ihr, bis zum Horizont in der Sonne. Chania war total fasziniert davon. In der Ferne erblickte sie grau-blaue Tiere, die im Wasser schwammen und immer wieder Wasser in die Luft pusteten. Gibt es tatsächlich so etwas Schönes außerhalb meiner tristen Welt? Was will Vater nur mit dieser Welt? Was mache ich hier eigentlich?
Chania hatte keine Lösung dafür und verstand auch den Auftrag nicht. Ratlosigkeit machte sich in ihr breit.
Was hat die Feder für eine Bedeutung? Warum werden meine Eltern davon gesünder?
Chania schüttelte energisch ihren Kopf. Sie wollte nicht mehr daran denken und einfach nur die schöne Gegend genießen. Sie sog daran gierig wie ein verdurstender an einem Strohhalm, als sie einen weißen Sandstrand betrat und die heißen Sandkristalle ihre Füße kitzelten. Chania blieb kurz stehen und grub einen ihrer Füße tiefer in den Sand hinein. Es war ein sehr angenehmes Gefühl und sie genoss es in vollen Zügen. Der weiße Sandstrand ging fließend in ein großes blaues Gewässer über. Leichte Wasserwellen liefen auf den Strand zu und die Luft roch salzig und würzig. Chania zog die herrliche Luft wie ein Blasebalg ein und streckte die Arme gegen den Himmel. Sie war glücklich und freute sich des Lebens. In Gedanken versunken schlenderte sie ziellos am Strand entlang, als sie plötzlich ein merkwürdiges Tier vor sich sah. Es war größer als sie selber und schaute sie neugierig an. Es hatte eine Art Beutel auf dem Bauch aus dem ein kleineres Tier hervorlugte. Chania staunte nicht schlecht. Nachdem es in der Zwischenwelt keine Schule gab und Chania von ihren Eltern nicht viel gelernt hatte, wusste sie nicht, dass es sich hierbei um ein australisches Känguru handelte. Das Känguru ist in Australien so viel wie ein Wahrzeichen. Jeder, der an dieses Land denkt, sieht sofort Kängurus vor seinen Augen. In ihrem Fall war es sogar ein rotes Riesenkänguru, das fast zwei Meter groß werden kann und in seinem Beutel war ein Babykänguru. Chania wusste gar nicht, wie viel Glück sie hatte, ein wild lebendes Känguru am Strand zu entdecken, da diese normalerweise die Angewohnheit haben, erst ab der Dämmerung oder in der Nacht auf Futtersuche zu gehen. Da sie eher ängstlich sind, ist es wichtig vorsichtig mit ihnen umzugehen, da sie, wenn sie sich bedroht fühlen, manchmal heftig reagieren können. Da Chania selber Angst hatte, näherte sich ganz vorsichtig dem großen Tier. Das Känguru erschrak trotzdem und machte sogleich einen Satz zurück. Chania erschrak daraufhin selber und stolperte. Ganz langsam rappelte sie sich wieder hoch, streckte ihre kleine Hand aus und versuchte das Tier zu beruhigen.
»Keine Angst, ich tu dir doch nichts«, sprach Chania leise und näherte sich erneut vorsichtig dem Känguru. Das sah Chania nur skeptisch an, rümpfte noch einmal die Nase, drehte sich einfach um und hoppelte davon.
Schade, so ein merkwürdiges Tier, ich hätte dich gerne gestreichelt. Warum bist du nur von mir weggelaufen?‘
Traurig blickte sie dem Tier hinterher, doch dann verwarf sie diese Gedanken wieder und schlenderte gedankenlos weiter am Strand entlang. Sie genoss einfach die Stille und den warmen Sand, der ihre Fußsohlen kitzelte. Nur das sanfte Rauschen des Meeres war zu hören. Plötzlich wurde die Stille jäh unterbrochen und sie hörte ein lautes Motorgeräusch näher kommen. Eine Gruppe Jugendlicher kam lachend mit einem kleinen offenen Jeeps daher und alle hatten sie kleine Bretter dabei, die aus dem Auto ragten. Sie hielten direkt neben Chania an und hupten erst mal kräftig.
»He du, wer bist du denn. Ich bin Mark. Dich haben wir hier ja noch nie gesehen!«, meinte einer der Jungs, sprang lässig aus dem Jeep heraus und posierte sich vor Chania, »wolltest du vorhin mit dem Känguru reden?«
»Ich bin Chania«, erwiderte diese schüchtern und musterte den Jüngling interessiert, »was meinst du mit dem Känguru reden.«
»Du bist aber komisch«, wunderte sich Mark, »du hast doch vorhin versucht das Känguru zu streicheln.«
»Ach so, das meinst du. Ich wusste gar nicht, was ein Känguru ist.« Chania blickte ihn mit großen fragenden Augen an.
»Woher kommst du denn, wenn du nicht mal das Wahrzeichen Australiens kennst?«, fragte Mark skeptisch, »du bist vielleicht ein merkwürdiges Mädchen – aber ein verdammt hübsches!« Dabei zwinkerte er zuerst zu seinen Freunden und dann zu Chania. Diese war etwas verwirrt darüber und zögerte. Sie konnte den Jungs doch nicht erzählen, dass sie aus der Zwischenwelt kam. Sie musste sich etwas anderes einfallen lassen.
Woher kommt gleich wieder Maximus?
»Ich, ich komme aus Europa«, stotterte sie unbeholfen.
»Europa? Sind alle Mädchen dort so hübsch wie du? Ich bin Kevin«, strahlte sie ein muskulöser Schönling an. »Magst du mit uns surfen?«
»Was ist denn surfen?«, fragte Chania.
»Na, mit den Brettern auf den Wellen reiten, was denn sonst«, meinte da ein anderer, packte lässig sein Brett und lief mit ihm zum Wasser. Und schon paddelte er auf das Meer hinaus. Dort wartete er auf eine große Welle, stellte sich auf sein Brett und surfte ganz cool auf dieser Welle. Das sah echt toll aus. Die anderen machten es ihm nach und ließen Chania einfach am Strand stehen. Sie sah den Jungs staunend nach und war total begeistert. Langsam bekam sie auch Lust, das Surfen auszuprobieren. Sie fasste all ihren Mut zusammen und wollte gerade einen der Jungs zu fragen, ob sie sich so ein Brett ausleihen könne, als sich plötzlich ohne Vorwarnung der Himmel verfinsterte und ein fürchterlicher Sturm aufkam. Chania fing an zu zittern.
Was passiert hier?
Eben noch hatte sie sich wie im Paradies gefühlt und jetzt bekam sie Angst. Die Jungs bekamen davon nichts mit und schwammen immer wieder auf das Meer hinaus, auf der Jagd nach einer neuen Welle. Sie genossen die hohen Wellen, denn auf ihnen konnte man am besten und am längsten surfen.
»He Jungs«, schrie Chania ins Meer hinaus, »das Wetter wird schlecht, kommt lieber aus dem Meer raus!«
Doch ihre Stimme erreichte die Jungs nicht und das Rauschen der Wellen übertönte diese. Sie konnte nichts anderes tun, als abzuwarten und setzte sich deshalb in den Sand. Ganz ohne Vorwarnung zog sich dann plötzlich das Wasser zurück. Chania traute ihren Augen nicht und rieb sie sich. Die Jungs, die gerade noch auf den tollsten Wellen gesurft hatten, lagen plötzlich im nassen Sand und blickten sich fragend an. Dann wurde es plötzlich, so still, als ob sich eine dicke Decke über das Meer gelegt hätte. Chanias Blick wanderte zum Horizont und zuerst dachte sie an eine Sinnestäuschung. Aus dem Nichts erschien eine riesige Welle, die jetzt immer schneller und größer werdend auf die Surfer zuraste. Chania sprang entsetzt auf, um besser sehen zu können und starrte wie auf die riesige Welle, die sich wie ein Gebirge hinter den Jungs aufgebäumt hatte. Sie musste mehrere Meter hoch sein und kam rasend schnell heran. Die bisherigen Wellen schienen dagegen mickrig gewesen zu sein und die Jungs auf ihren Brettern kamen ihr jetzt wie kleine Ameisen vor. Sie wollte die Jungs noch warnen und schrie auf: »Vorsicht Jungs, da kommt eine große Welle!« Kevin schien etwas gehört zu haben, denn er blickte kurz auf und winkte Chania zu. Dabei erblickte er ihr entsetztes Gesicht, drehte sich kurz um und sah jetzt auch die riesige Welle auf sich zukommen. Voller Panik ergriff er sein Surfbrett und lief schreiend zum Strand.
»Schnell weg hier! Ein Tsunami!«
Hektik – Schreie brachen aus. Die Jungs versuchten panisch zu fliehen, doch es war bereits zu spät. Die Welle hatte Kevin und die anderen Jungs bereits erreicht. Sie hatten gegen die Wassermasse keine Chancen. All ihre neuen Freunde wurden plötzlich unter der riesigen Welle begraben. Genau dort, wo die Jungs waren, brach diese und der Sog spülte die Jungs wieder aufs Meer hinaus. Chania starrte ihnen mit offenem Mund nach und brachte keinen Ton mehr heraus. Quälende Unsicherheit machte sich in ihr breit. Dann kamen die Ausläufer der Welle auf sie zu und es ging alles schnell. Noch bevor Chania reagieren konnte, wurde auch sie unerwartet von den Wassermassen überrascht. Sie spürte das salzige Wasser auf ihrer Zunge. Übelkeit und ein Würgereiz quälte ihren Gaumen. Dann verschwand das Wasser genauso schnell, wie es gekommen war. Chanias neue Freunde waren einfach verschwunden und sie blieb allein am Strand zurück. Ihre Kleider trieften vor Nässe. Eine unheimliche Stille machte sich breit. Ungläubig und immer noch geschockt, sah sie, wie sich das Wasser wieder ins Meer zurückzog. Keine Spur von den Jungs.
Wo seid ihr denn alle? Hilfe! Ich muss Hilfe holen!
Chania wollte das nächste Dorf aufsuchen, als sie in der Ferne erneut eine noch größere Welle auf sich zukommen sah. Diese war bereit, mit voller Wucht weit ins Innere des Landes zu schwappen. Ich muss hier sofort weg!
Sie lief, so schnell sie konnte und versuchte zu fliehen, doch es war bereits zu spät. Nur wurde sie nicht von ihr verschluckt, sondern die Welle transportierte Chania auf ihrem höchsten Punkt wie ein Surfbrett. Chania schnappte hektisch nach Luft, erneut machte sich Übelkeit in ihr breit. Doch dieses Mal war nicht das salzige Wasser schuld daran, sondern der Gedanke an die Jungs.
‚Hoffentlich haben die Jungs diese große Welle überlebt und sind nicht ertrunken‘, dachte sie sich noch, während sie unverhofft, wie von Geisterhand, von der Welle in Richtung einer nahen Stadt transportiert wurde. Sie ließ es wie erstarrt zu, als wäre sie in einem Dämmerschlaf. Kurz vor den Mauern einer Stadt ließ die Welle sie fallen und zog sich dann, als wäre nichts gewesen, ins Meer zurück. Sie vernahm dumpfe, hysterische Schreie. Plötzlich war sie hellwach. Es waren die Menschen der Stadt, die aufschrien, als sie die herankommende große Welle sahen. So etwas hatte es hier noch nie gegeben, das Meer war doch viel zu weit weg. Sie wunderten sich auch über das merkwürdige Mädchen, das vor ihrer Haustür angeschwemmt wurde.
Chania fühlte sich noch etwas benommen, als sie ein paar Kinder von der nahe gelegenen Schule auf sich zukommen sah. Sie waren teils dunkelhäutig und andere hellhäutig wie Chania. Ein braunhaariges Mädchen, etwa in ihrem Alter, half ihr aufstehen. Sie blickte sie mit großen Augen an, als wäre sie eine Außerirdische.
»Kommst du aus dem Meer?«, fragte das Mädchen.
»Bist du eine Meerjungfrau?«, wollte ein anderes dunkelhäutiges Mädchen wissen und nahm dabei Chanias strohblonde Haare in die Hand.
Ein Junge meinte: »Sie ist aber fast vom Himmel gefallen. Das muss ein Engel sein!«
»Wie heißt du?«, fragte sie ein dunkelhäutiger Junge mit tiefschwarzen Haaren und braunen Augen.
Chania starrte alle noch etwas benommen an.
»Ich bin Chania. Was ist denn passiert? Die Welle, eine große Welle und plötzlich waren die Jungs verschwunden«, stotterte sie und blickte sich verwirrt um.
»Welche Jungs?«, fragte der dunkelhäutige Junge.
»Na eben Jungs! Sie kamen mit einem Jeep und hatten Surfbretter dabei.«
»Das war bestimmt Mark mit seiner Truppe. Die schwänzen öfter mal die Schule und gehen surfen. Das gibt Ärger. Kommt mit und lasst uns nachsehen, was mit ihnen passiert ist.«
Chania nickte beklommen. Zusammen gingen sie zurück ans Meer. Dieses hatte sich wieder beruhigt und es war keine einzige Welle zu sehen. Der Jeep stand immer noch am Strand und im Sand verstreut lagen vier Surfbretter, doch von den Jugendlichen war weit und breit nichts zu sehen.
»Ich glaube, sie sind alle ertrunken!«, meinte ein Mädchen traurig, »lasst uns die Wasserwacht alarmieren, die sollen nach ihnen suchen!«
Eine tiefe Beklommenheit machte sich in der Gruppe breit. Ein paar fingen an zu weinen, sie hatten ihre Freunde verloren. Auch Chania war traurig und dachte natürlich nicht im Traum daran, dass ihre Anwesenheit daran schuld war. Sie wusste auch nicht, dass diese Welle an den Stränden und nahegelegenen Dörfern großen Schaden angerichtet hatte und viele Menschen unter sich begraben hatte. Das war keine normale Welle mehr gewesen, sondern ein Tsunami, eine tödliche Welle, vermutlich ausgelöst durch ein unterirdisches Seebeben. Dörfer waren zerstört worden, Ferienanlagen dem Erdboden gleich gemacht worden. Das Unheil nahm seinen Lauf, das Böse war nach Australien gekommen und wollte alles vernichten. Doch Chania ahnte nichts davon. Sie ging mit der Gruppe schweigend und traurig in die Stadt zurück, die von der Welle verschont geblieben war. Doch irgendetwas Merkwürdiges ging auch in dieser Stadt vor sich. Die Kinder und Chania wollten gerade in der Schule Bescheid geben und die Wasserwacht informieren, als ein paar Kinder erneut aufschrien. Eine noch größere Welle kam auf die Stadt zu. Doch dieses Mal machte sie nicht vor der Stadt halt. Chania wurde von ihren neuen Freunden getrennt und von dieser Welle mitgerissen. Die Welle zog so heftig an ihr, dass sie dachte sie würde zerrissen werden. Ihr ganzer Körper wurde so umhergewirbelt, dass es ihr schwindlig und schlecht wurde. Plötzlich drehte sich alles um sie herum. Menschen, Tiere, Gegenstände ja ganze Häuser wurden von der Welle erfasst. Zusätzlich entwickelte sich noch eine heftige Windhose die sich mit der Welle verbündete und so das Wasser umherwirbelte. Beide zusammen vereint, zerstörten jetzt alles, was sich ihnen in den Weg stellte. Menschen, Tiere und Gebäude wirbelten gleichzeitig wild durcheinander. Chania musste hilflos dabei zusehen, wurde von einer blauen Windwelle erfasst und schwebte dann wie von Geisterhand immer weiter ins Landesinnere. Chania verließen die Kräfte, sie wurde bewusstlos und fiel in einen seltsamen Schlaf. Sie bekam nichts mehr von der Zerstörung um sie herum mit. Nach einiger Zeit legte die Windwelle sie sanft auf der Steppe ab und wurde selber von der Dürre aufgesogen. Dort fanden sie später ein paar Touristen, die ein Mädchen vom Highway aus entdeckt hatten. Diese waren mit einem Kleinbus auf dem Weg durch den Zulu-Kata Tjua National Park und wollten den Ayers Rock besichtigen. Der Busfahrer hatte den leblosen Körper neben der Straße entdeckt und hielt den Bus plötzlich an. Einige Touristen, die durch die lange Fahrt eingenickt waren, schrien entsetzt auf. Der Busfahrer packte seine Wasserflasche, stieg aus und ging zu Chania und rüttelte an ihr.
»Miss, wachen Sie doch auf!«, meinte er besorgt, hob sie leicht an und goss ihr dabei etwas Wasser auf ihre aufgesprungenen Lippen.
»Bitte Miss aufwachen! Sind sie tot?«, fragte er sie und rüttelte jetzt fester an ihr. Chania spürte das Wasser auf ihren Lippen, stöhnte auf und sah einen fremden Mann, der sich über sie beugte. Sie stöhnte lauter auf und leckte sich die Lippen.
»Wasser, ich brauche mehr Wasser«, krächzte sie. Der Busfahrer hielt ihr die Flasche hin und Chania trank in hastigen Zügen. Das bewirkte wiederum einen Husten- und Würgereiz. Der Busfahrer klopfte ihr sachte auf den Rücken. »Beruhige dich Miss!«
Mittlerweile waren noch ein paar der Touristen aus dem Bus gestiegen und eine kleine Gruppe scharrte sich neugierig um Chania.
»Wo bin ich, wer sind sie?«, fragte diese in die Gruppe, versuchte dabei aufzustehen, sank aber sofort wieder bewusstlos zusammen.
»Sie lebt, sie lebt. Kommt, helft mir sie in den Bus zu tragen«, forderte der Busfahrer zwei Männer der Gruppe auf. Die drei trugen sie vorsichtig in den Bus. Die Kühle des klimatisierten Busses wirkte auf Chania wie ein Jungbrunnen. Sie erwachte erneut und fühlte sich schon bedeutend besser. Die Touristen starrten sie neugierig an.
»Wie kommen sie denn in den Nationalpark und warum lagen sie neben der Straße?«, wunderte sich ein Tourist, der ihr mit einem feuchten Lappen das Gesicht abwusch.
»Ich äh war an der Küste. Dann kam ein Tsunami und schleuderte mich hier her.«
»Mädchen das ist unmöglich, weißt du wie weit weg die Küste von hier ist? Wir sind hier in der Mitte Australiens im Northern Territory«, grinste der Busfahrer und schüttelte ungläubig den Kopf, »du hast wohl zu viel von der Australischen Sonne abbekommen, oder so etwas wie eine Amnesie. Wir nehmen dich erst einmal zum Uluu mit.«
»Wer oder was ist Uluu?«, fragte Chania belustigt.
»Da, sieh nach vorne, das ist Uluu. Der wurde 1987 ein Nationalpark und man änderte 1993 den Namen offiziell auf Uluu-Kata Tjua National Park. Jetzt gehört er zu dem UNESCO Weltkulturerbe.«
»Wow, ein Weltkulturerbe!«, stöhnte Chania beeindruckt.
Sie wusste zwar nicht was das bedeutete, aber es klang sehr wichtig. Der Berg, den sie vor sich sah, war gigantisch und imposant und hatte eine rötliche Farbe. Der Busfahrer, der gleichzeitig der Reiseführer war, erklärte es genauer: »Was sie da vorne sehen ist Uluu oder auch Ayers Rock genannt. Diesen Felsen wollen immer wieder Touristen besteigen, doch dies ist nicht ratsam.« Der Busfahrer blickte ernst in die Runde und fuhr fort: »Die Aborigines, die Ureinwohner Australiens, sehen jede Besteigung, als eine Entweihung ihrer Vorfahren an, die dort wohnen.«
Ein paar der Touristen fanden diese Zweideutigkeit wohl lustig und kicherten.
»Das ist ja komisch, wie sollen die denn in einem Felsmassiv Vorfahren wohnen?«, fragte ein Tourist belustigt und kam sich dabei toll vor.
Der Busfahrer, selber ein Aborigine, ignorierte diese dumme Frage, strafte den Mann aber mit einem bösen Blick und fuhr dann fort mit seiner Erklärung: »Wir Aborigines sind sehr eng mit dem Land in dem wir leben verbunden. Enteignungen, die die Weißen durchführten, haben uns nicht nur das Land, sondern auch ein großes Stück unserer Seele genommen und führten zur Entwurzelung und zum sozialen und seelischen Zerfall ganzer Stämme. Viel ist von unserer Kultur nicht mehr übrig geblieben, aber dieser Felsen ist uns heilig und wir würden uns wünschen, die Weißen würden dies endlich auch respektieren!«
Die Touristen im Bus stöhnten auf, manche nickten und andere schüttelten ungläubig den Kopf.
»Wir werden uns später noch Höhlenmalereien bzw. Steinritzungen in den Höhlen anschauen. Sie werden dort einiges über die Welt der australischen Ureinwohner kennenlernen.«
»Weiß man wie alt diese Höhlenmalereien sind?«, fragte eine ältere Frau.
»Man schätzt, dass diese Steinritzungen und Malereien bis zu 40.000 Jahre alt sind. Die Aborigines bestanden damals noch aus vielen Stämmen. Sie zählen zu den ältesten Volksstämmen auf der Erde.«
»Wow!«, raunte es durch den Bus, das war vielen neu gewesen. Chania spitzte die Ohren.
»Man vermutet, dass die ersten Einwanderer in der letzten Eiszeit, über die Landbrücken, von Südasien und Neuguinea, nach Australien gelangten. Sie konnten damals zu Fuß oder mit Booten diesen Kontinent erreichen, weil der Wasserspiegel noch 80 m tiefer als heute war. Laut den Forschungen wurde dann Tasmanien als erstes besiedelt.«
»Gibt es eigentlich noch die Tasmanier?«, fragte ein Tourist neugierig, »ich habe gelesen, dass diese damals von den Engländern nahezu ausgerottet wurden. Sie landeten in Straflagern oder starben durch Epidemien und eingeschleppte Krankheiten.«
»Das ist richtig, 1869 starb mit William Lanne der letzte reinrassige Tasmanier, 1905 Fanny Cochrane Smith, die letzte reinrassige Tasmanierin.«
»Dann wurde ein Volk also ganz ausgerottet?« »Das ist aber schlimm! «So eine Sauerei!« »Überall auf der Welt das gleiche!« Im ganzen Bus redeten jetzt alle durcheinander. Die Geschichte hatte die Touristen aufgewühlt, darunter auch zwei Engländer, die sich am liebsten in das letzte Eck verkrümelt hätten. Der Busfahrer schüttelte den Kopf. Immer wieder diese Reaktionen der Touristen. Mit der Vergangenheit und der Ausrottung ganzer Völker hatten viele Menschen heutzutage ihre Probleme.
‚Hätten sie nur früher, zur Kolonialzeit, auch so gedacht‘, dachte sich der Busfahrer, ‚dann wären meine Vorfahren nicht so behandelt worden und die Aborigines wären nicht so ein trauriges Volk geworden.‘
Doch auch, ohne dass er die Menschen zusätzlich aufstachelte, entbrannte eine heiße Diskussion im Bus. Chania hörte nicht mehr zu. Sie dachte nur an die armen Urvölker und die Menschen, die größtenteils durch die, in den Kontinent gebrachten Krankheiten, ausgerottet wurden. Sie verstand das alles nicht. Der Bus hielt am Fuße des Ayers Rock an.
»Wir werden uns jetzt eine alte Höhle anschauen«, verkündete der Busfahrer, der gleichzeitig der Touristenführer war. Nach einem kleinen Anstieg kamen sie an einer Höhle an. Ehrfürchtig betrat die Gruppe die beleuchtete Höhle und bald konnten sie schon die ersten Höhlenmalereien entdecken. Der Busfahrer erklärte fachmännisch: »Die Aborigines glauben, dass das Land in der Dreamtime von einem oder von mehreren höheren Wesen erschaffen wurde. Einen kultischen Mittelpunkt bilden heute vor allem noch Felsbilder wie im Northern Territory. Auf ihnen werden Mythen und Legenden überliefert. Als dann die Weißen ins Land kamen, versuchte man durch Missionare, den Aborigines den christlichen Glauben aufzuzwingen. Viele nahmen diesen auch an. Aber wahrscheinlich legten sie ihren alten Glauben nie ganz ab.« Chania konnte nicht viel erkennen, doch sie glaubte auf einem der Bilder fliegende Füchse zu sehen. Wie kommen die denn da hin?
»Sind das fliegende Füchse?«, fragte sie den Fremdenführer neugierig.
»Gut erkannt kleine Lady«, staunte der Fremdenführer, »das waren die Gagadju von denen diese Malereien sind und diese glaubten, dass ihre Nahrungsquellen üppig sprudeln würden, wenn sie rituelle Zeichnungen von fliegenden Füchsen in die Wände bestimmter Felsen ritzten. Dadurch sollte die Kraft des Schöpferwesens auf sie übergehen und sie können Jagdglück erwarten oder auch den reichlichen Fund von nahrhaften Wurzeln und Pflanzen.«
»Das ist ja komisch«, murmelte Chania nachdenklich, »und warum malten sie ausgerechnet Füchse?«
»Jeder Gagadju hatte mehrere Totems, die zu seinem Teil der Traumzeit gehören, diese waren Tiere oder Pflanzen. Sie glaubten, dass sie Nachfahren des gleichen Geistes wären und dass sie etwas von der Lebens-Essenz dieses Tieres besitzen.«
Die Gruppe stöhnte erneut interessiert auf.
Der Fremdenführer erklärte weiter: »So glaubte ein Gagadju, der zum Traum vom Känguru gehörte, dass er ein Känguru würde, wenn er sich während einer Zeremonie ein Bild eines Kängurus auf den Körper malte. Während seines Lebens wurde er so zu einem engen Verwandten des Kängurus und konnte deshalb kein Känguru töten oder essen. Er glaubte, dass ihn Kängurus zu guten Jagdgründen führen oder ihn vor Gefahr warnen würden.«
»Essen die Aborigines alle kein Kängurufleisch?«, fragte eine Touristin interessiert.
»Natürlich nicht, dieses Tier ist für uns heilig«, antwortete der Fremdenführer nur knapp und drehte sich empört weg.
Chania hatte genügend gesehen und entfernte sich schnell von der Gruppe. Sie bekam irgendwie keine Luft mehr und die Geschichten über seine Vorfahren, raubten ihr den Atem. Schnell eilte sie zum Ausgang zu, wo sie auf ein paar Aborigines traf, die scheinbar auf sie gewartet hatten und sie aufforderten, mitzukommen. Zögernd ließ sich Chania von ihnen zu einem alten Medizinmann führen, der sie skeptisch betrachtete. Er hatte Zeichnungen mit weißer Farbe am ganzen Körper. Es war als würde er sich durch diese reine Farbe schützen wollen. Als die Aborigines mit Chania ankamen, wurde sein Gesicht hart und sein ganzer Körper begann zu beben.
»Devil«, sagte er mit einem angsterfüllten Gesicht und deutete auf Chania. Sie wusste nicht, was er damit meinte, doch es hatte bestimmt nichts Gutes zu bedeuten. Deshalb schüttelte sie energisch den Kopf.
»Nein, ich bin ein Freund!«
Der Medizinmann wich entsetzt von ihr zurück. Er sah in ihr etwas, dass die anderen nicht sehen konnten. Für ihn war Chania die Überbringerin des Bösen, Satans Werkzeug. Er stimmte einen merkwürdigen Gesang und Tanz an und fuchtelte vor ihrem Kopf mit einer Keule herum. Es war als würde er böse Geister vertreiben wollen. Doch der böse Geist des Herrschers der Zwischenwelt, der mit Chania nach Australien gekommen war, lies sich nicht durch uralte Riten eines Medizinmannes vertreiben. Ganz im Gegenteil, der Herrscher der Zwischenwelt spürte in diesem Moment einen heftigen Widerstand und so ging er auf Angriff. Wie aus dem Nichts kamen dunkle Wolken, die sich aneinander schoben und den Himmel verdunkelten. Ein lauter Donner hallte durch das Gebirge, ein Blitz schlug in den Ayers Rock ein. Die Aborigines, voran der Medizinmann stoben entsetzt mit wildem Geschrei auseinander. Ein Junge ihres Alters packte sie an der Hand und zog sie weg. Es war als rannte er um sein Leben. Chania lief keuchend mit ihm mit. Hinter ihnen bröckelten die Felsen ab, es krachte gewaltig und große Gesteinsbrocken verschütteten den Ausgang aus der Höhle. Die ganze Gruppe von Chania wurde bei lebendigem Leib verschüttet. Entsetzte Schreie drangen aus der Höhle, die aber bald dumpfer wurden und alsbald verstummten. Chania und der Junge rannten um ihr Leben, weg von diesem unheimlichen Berg. Ein heftiger Wind kam auf und trennte die beiden. Der Junge versuchte noch Chania festzuhalten, doch er wurde von ihr weggerissen und verschwand im Nu. Der Wind packte Chania und nahm sie mit auf seine Reise durch den ganzen Kontinent. Er wurde zu einem Tornado und verwüstete ganze Landstriche. Das Mädchen bekam davon nichts mehr mit, da sie im »Auge« des Tornados in einem Zustand von Trance durch das Land schwebte. Es war wie in einem Albtraum und genauso unwirklich passierte das alles. Sie konnte nicht wissen, dass sie schon allein durch ihre Anwesenheit das Böse auf den Kontinent Australien gebracht hatte. Dann entstand eine richtige Kettenreaktion. Menschen, Städte, Dörfer und ganze Landstriche wurden systematisch vernichtet. Die überlebenden Menschen wurden so böse, dass sie sich gegenseitig schlecht machten, angriffen oder gar töteten. Das Böse breitete sich in Windeseile aus. Dann plötzlich ließ der Wind nach und ließ Chania fallen. Als sie wieder klar denken konnte, wusste sie nicht mehr, ob sie das alles geträumt hatte, doch es war so real gewesen. Ihr ganzer Körper fing an zu zittern.
‚Vielleicht muss ich nur diese komische Feder finden, dann hört das Ganze auf‘, dachte Chania gerade, als ein großer Vogel vor ihr stand.
Sie wusste nicht, dass es sich hierbei um einen Vogel Strauß handelte. Ein Vogel mit sehr großen Federn. Der Vogel schaute Chania entsetzt, mitleidig und zuletzt wütend an und plötzlich sauste er davon. Zurück blieb eine Feder. Das muss die Feder sein, von der mein Vater gesprochen hat. Jetzt wird alles gut.
Sie dachte nicht im Geringsten daran, durch ihre Anwesenheit das Böse zu säen. Von wegen die Feder würde alles beenden, ganz im Gegenteil. Wenn der Herrscher erst im Besitz dieser Feder wäre, hätte er schon fast gewonnen. Es war zwar erst der kleinste Kontinent, aber immerhin ein Anfang. Hätte sich Chania zum Beispiel Europa ausgesucht, dann wäre das Böse bedeutend schneller auf die ganze Welt gekommen. Aber Australien war ein abgeschiedener Kontinent und das Böse würde auf diesen Kontinent begrenzt bleiben und würde sich nicht weiter ausbreiten können.
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